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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Frackschöße den Tisch, die hart am Rande liegenden Karten herunterwerfend. Sie blätterten über Brunos Schoß zur Erde. Unwillkürlich griff dieser danach und fing mit der Rechten einige auf.

Hermann hatte den Atem angehalten; er sah ein As und eine Zehn in des Bruders linker Hand.

„Kleiner Schlag!“ rief der Lieutenant mit vor Aufregung heiserer Stimme.

„Großer Schlag!“ sagte Bruno langsam, Herz-As und eine Acht auf den Tisch legend.

„Entschuldige, Bruder, wenn ich Dich auf einen Irrtum aufmerksam mache, aber mir schien, als hättest Du diese Karte soeben aus Mißverständnis mit jener verwechselt, während das Spiel herunterfiel.“

Es herrschte für eine Sekunde atemlose Stille. Bruno starrte noch bleicher als vorhin auf das Herz-As, dann raffte er sich auf.

„Ich bitte um Entschuldigung,“ stieß er hastig heraus. „Ich hatte meine Karten selbst noch nicht angesehen!“

Prinz Sissi stand wieder am Tisch, sein Blick haftete adlerscharf auf Hermanns verstörten Zügen. „Sie müssen sich irren, lieber Herr Lieutenant von Weßnitz,“ sagte er, jedes Wort betonend. „Es ist zwar mein eigener Schaden, aber ich weiß bestimmt, als ich zum Nebentisch trat und die Karten herunterfielen, daß ich den großen Schlag in der Hand Ihres Bruders gesehen habe. Ich wollte mir mit einem Chartreuse über mein Pech hinweghelfen,“ fügte er lachend hinzu.

Hermann war bleich wie der Tod.

„Dann war es ein Irrtum meinerseits, ich bitte um Entschnldigung, Durchlaucht!“

Er fühlte einen stechenden Schmerz in der Schläfe. Nur jetzt etwas thun können, um diese entsetzliche Pause zu kürzen! Weil ihm nichts anderes einfiel, sagte er. „Bruno, willst Du mir die Bank überlassen? Wir machen Halbpart, wenn die Herren einverstanden sind!“

Er hatte nie eigentlich gespielt; nur hier und da an langweiligen Abenden sich beteiligt, um die Zeit totzuschlagen. Wie alle Gleichgültigen hatte er Glück, auch heute. Man machte Witze darüber; das Spiel hatte seinen Höhepunkt überschritten und ging langsam, mit mäßigen Einsätzen weiter. Die Erregung war vorüber.

„Meine Herren, ich denke, wir machen Schluß, fahren zusammen ins Café und feiern den Sonnenaufgang!“ sagte der Assessor, sich erhebend.

Der Lieutenant, der einige hundert Mark gewonnen hatte, stimmte rasch zu.

Nach wenigen Minuten waren die beiden Brüder allein, allein in dem grauen Zwielicht des Morgens, das durch die Fenstervorhänge hereinschlich.

(Fortsetzung folgt.)


Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Der „Tschört“.
Nach einer wahren Begebenheit erzählt von Olga Wohlbrück.


Fern im Osten, an der Grenze von Galizien, liegt ein kleiner Ort mit Namen Pugowka, auf deutsch „Knopf“. Er hebt sich auch mit seinen niederen Lehmhütten nicht anders als ein Knopf von der endlosen Ebene ab, die sich zu beiden Seiten des Dörfchens ausbreitet. Der Wald liegt weit ab . . . dort, wo Himmel und Erde in eine Linie zusammenfließen, nächst dem Fluß, der gleich einem silbernen Bande die Wiesen und Felder einsäumt.

Allein gingen die Kinder nicht gerne ins Gehölz, denn sie fürchteten die Waldgeister, nur wenn die Väter Bäume fällten, schlenderten sie mit und sammelten Reisig und Pilze.

Die Männer fällten die großen Baumstämme, banden sie zusammen zu Flößen und fuhren bis zum nächsten Städtchen zu dem großen Unternehmer, dem der ganze Wald von Pugowka gehörte. Der Unternehmer war ein stolzer, vornehmer Herr. Die Bauern meinten, er sei ein Deutscher, und wenn sie seine hohe Gestalt an der kleinen, roh gesägten Landungsbrücke erblickten, dann nahmen sie schon von weitem die Mützen ab, und die Kinder, die mit auf dem Floß waren, bekreuzten sich vor lauter Respekt.

Kaum hundert Schritte vom Landungsplatz lag die Fabrik, wo die Holzstämme zersägt wurden. Aus den im Sommer geöffneten Fenstern drang ein höllenmäßiger Lärm. Die Bauern wagten sich niemals in die Nähe. Der Unternehmer forderte einmal den Aeltesten auf, die Fabrik zu besichtigen, aber der bekreuzte sich und wehrte ab. „Was soll ich, Herr, in dem Teufelsraum! Im Handumdrehen hat einen der ‚Tschört‘ (der Teufel) beim Genick!“

Die Kinder waren beherzter, sie liefen, während den Vätern der Lohn ausgezahlt wurde und der Unternehmer den Schnaps kredenzte, näher zur Fabrik heran, drangen in den Hof und vergruben sich lachend in den großen Haufen von Sägespänen und Sägestaub wie Spatzen im Sand, blickten neugierig zu dem hübschen Wohnhause des Unternehmers empor und lugten durch den lose gezimmerten Zaun in den wohlgepflegten Garten. Einmal gewahrten sie dort eine feine Dame und ein kleines weißgekleidetes Mädchen mit blonden Locken, das ein ganz winziges blondes Kindchen auf dem Arm trug. Und sie stießen sich gegenseitig an und kicherten: „Daß es so kleine Kinder giebt!“

„Ich habe erst gestern einen kleinen Brnder bekommen,“ sagte die sechsjährige Njutka zu einem Kameraden, „aber der ist doch viel größer. Und dann schreit er auch.“

Njutka verband nun mit der Vorstellung von der Stadt die Begriffe, daß die Maschinen wie lebende Menschen seien, die kleinen, ganz kleinen Kinder aber – wie Tote. Sie erzählte das zu Hause ihrer Mutter, die die Hände über dem Kopf zusammenschlug und meinte: „Du gehst mir nicht mehr in die Stadt, Njutka, dort wirst Du noch vom Bösen verführt.“

Aber Njutka bat und bettelte so lange, daß sie das nächste Mal doch wieder den Vater begleiten durfte. Sie nahm sich vor, diesmal von all ihren Entdeckungen zu schweigen. Heimlich stahl sie sich von ihren Kameraden fort und eilte geradeswegs auf den Zaun zu. Sie legte das Auge an ein großes rundes Loch und spähte hindurch. Richtig, da ging es wieder, das kleine Fräulein, und hielt auch diesmal ein Kind auf dem Arm. Nein ... das war kein Kind . . . das war ja der leibhaftige Teufel, mit braunem Gesicht, schwarzem Kraushaar, blutroten Lippen und einem roten Sammetkittel. Aber der Teufel rührte sich nicht, das kleine Fräulein nahm ihn auf den rechten Arm, dann auf den linken – er ließ sich alles gefallen. Dann beugte sie sich zu ihm nieder, sprach leise mit ihm und gab ihm einen Klaps. Nach einer Weile streichelte sie ihn, drückte ihn in ihren Armen und küßte ihn auf die halbgeöffneten blutroten Lippen.

Njutka hatte furchtbares Herzklopfen; aber die Neugierde besiegte die Angst. Sie steckte einen Finger durch das Loch, klopfte mit der Faust der anderen Hand auf den Zaun und rief: „Du, Fräulein, Du . . .“

Die Kleine hob den blonden Kopf. „Wer ruft mich?“

„Ich.“

„Wer bist Du?“

„Ich heiße Njutka und habe mit Väterchen Holz aus Pugowka gebracht. Siehst Du meinen Finger?“

„Jawohl. Nun klettere doch über den Zaun!“

„Ich kann nicht, ich bin zu klein.“

„Na, warte, dann will ich Dir das Pförtchen aufschließen.“

„Wird mir Dein Tschörtik (Teufelchen) aber auch nichts thun?“

„Welchen ‚Tschörtik‘ meinst Du?“

„Den Du auf dem Arm trägst.“

„Du bist dumm, das ist ja meine Puppe.“

„Was ist das, eine Puppe?“

„Na, komm her und sieh Dir’s an!“

Einen Augenblick später knarrte das Pförtchen in den Angeln, und das kleine Fräulein, des Unternehmers einziges Töchterchen, Lisa, trat heraus. Sie blickte das Bauernmädchen nach Art verwöhnter Kinder sehr ungeniert an, dann sagte sie: „Du bist sehr schmutzig, Njutka.“

Njutka lachte, denn sie empfand diese Worte nicht als Vorwurf. Der Schmutz war für sie etwas ganz Natürliches. Sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_538.jpg&oldid=- (Version vom 27.7.2022)