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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Gar nichts?“

„Nein. Oder doch! Dieser verdammte Russe!“ Erleichtert atmete er auf, daß ihm diese Ausflucht gekommen war.

„Was ist mit ihm?“

„Ach, nichts! Aber hast Du ihn und die Lore heut’ abend zusammen gesehen? Ein Skandal! Man wird es nächstens in den Zeitungen lesen.“

Gott sei Dank! Hier wenigstens war er zu fassen! dachte Hermann. „Und weshalb spielst Du, Lores Gatte, diese Dulderrolle?“

Bruno lachte schrill auf. „Frage doch Lore selbst! Sie hat ihn ja herangezogen.“

Hermann schüttelte den Kopf. „Wirf keinen Stein auf Dein Weib! Ihre Seele ist noch rein.“

„Noch?“ rief Bruno schneidend.

„Ja, noch!“

„O, wenn ich handeln könnte, wie ich wollte!“

„Was hindert Dich?“

Brunos Gesicht wechselte rasch die Farbe, dann ließ er die Faust dröhnend auf einen Tisch fallen. „Mir sind diesem Prinzen gegenüber die Hände gebunden!“ Und Hermanns Erschrecken bemerkend, fuhr er gereizt fort. „Nun ja, was starrst Du mich so an? Der Russe hat mir oft aus einer Geldklemme geholfen. Doch Unsinn – er ist ein Ehrenmann durch und durch!“

Es wurde totenstill. Dann schwere, langsam sich entfernende Schritte, das Geräusch der sich schließenden Thür – Bruno war allein. Ihm war zu Sinn wie jemand, der vor der Vernichtung steht. Er wagte sich kaum zu rühren. Erst nach einer Weile wandte er scheu den Kopf und starrte mit glanzlosen Augen in das trostlose Grau. Plötzlich hörte er auf dem Flur Kindergeschrei, die helle fröhliche Stimme seines Knaben. Er stürzte hinaus, preßte Edgar an sich, tollte mit ihm herum und trieb tausenderlei Unsinn, nur in dem Drange, sich von dem Jauchzen des Kindes die inneren Stimmen übertönen zu lassen, nur um den alten Leichtsinn wiederzufinden. Und es gelang ihm. Nicht einmal mehr körperlich unbehaglich fühlte er sich, als er nach einiger Zeit das Haus verließ, um sein Bureau aufzusuchen.


Nun ist alles vorbei, hatte Hermann gedacht, als er auf der Straße war. Zu Hause fand er seinen Burschen schon wach und schämte sich fast vor ihm, nicht weil er erst im Morgengrauen zurückkam – er hatte das Gefühl, als müsse er sich von heute an vor jedem Menschen schämen.

Finstere Gedanken durchwühlten sein Gehirn, auch während der Vortragsstunde in der Akademie, wo er noch schweigsamer und stiller auf seinem Platze saß, als ihn seine Kameraden sonst zu sehen gewohnt waren.

Ein unbesieglicher Zorn gegen den Bruder arbeitete in seinem Innern, gegen diesen Menschen, der nicht nur seine eigene Ehre, sondern auch die seiner Frau und seines Hauses durch den Kot zog, der dank seinem jämmerlichen Leichtsinn nicht mehr das Recht besaß, einem zudringlichen Versucher die Thür zu weisen. Und dann dies Unerträgliche, das gar nicht auszudenken war – Brunos Benehmen beim Spiel! War es soweit mit dem Bruder gekommen? Oder hatte er selbst sich am Ende doch getäuscht? Aber nein, nein, er hatte zu deutlich gesehen. Und sagten nicht Brunos Verwirrung und das eigentümliche Eingreifen des Prinzen genug? Fluch diesem Russen, der offenbar alles durchschaute, der jeden Augenblick die Schande der Familie Weßnitz ausposaunen konnte, wenn er wollte! Wenn er wollte – ja. Aber gab es denn kein Mittel, diesen Menschen unschädlich zu machen? Konnte man seine Geldansprüche an Bruno nicht befriedigen, ihn dann dazu bringen, sich aus Berlin zu entfernen? Wenn die Schuld Brunos nicht allzu groß war – das ließ sich ordnen. Er konnte dem Bruder die nötige Summe aus dem Erbteil der Mutter zur Verfügung stellen. Ja, das war der allein richtige Weg! Es war zwar seine letzte Hilfsquelle, aber lieber hungern, als stets die Schande über seinem makellosen Namen lauern sehen! Indessen – würde Bruno darauf eingehen? Würde er, nach allem, was vorgefallen war, den Mut finden, dem Russen das Geld vor die Füße zu werfen und ihm sein Haus zu verbieten? Und mußte Lore dann nicht alles erfahren? Würde sie nicht außer sich sein vor Scham, den eigenen Gatten hassen, verabscheuen? Würde ihr der Prinz nicht als das Muster eines vornehmen Mannes erscheinen? Er, der so großmütig das Geld gab und nie etwas dafür forderte! Nein, nein! Ein Dritter, er selbst konnte besser alles ordnen. Lore durfte nichts erfahren. An ihm selbst war es, den Prinzen nach der Höhe der Schuld zu fragen und ihn zu zwingen, unauffällig den Verkehr abzubrechen und Berlin zu verlassen.

*  *  *

Prinz Sissi befand sich zu Hause in seinem Hotel, als ihm Hermanns Besuch gemeldet wurde. Zuvorkommend trat er dem Gast entgegen und lud ihn zum Sitzen ein.

„Ah, was verschafft mir die Ehre, Herr von Weßnitz? – Ein wenig Kater von der vergangenen Nacht? Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaviar und einen russischen Liqueur?“

„Ich danke, Durchlaucht! Mich führt etwas Ernstes zu Ihnen, eine heikle Angelegenheit. Sind wir hier allein?“

„Bitte sehr, ich stehe zur Verfügung,“ sagte der Prinz, erstaunt die Thür zum Nebenzimmer schließend.

Hermann legte langsam Mütze und Handschuhe auf den Tisch.

„Ich will keine große Einleitung machen. Ich erfuhr zufällig von meinem Bruder, daß er in Ihrer Schuld steht, und bitte Sie, mir die Höhe der Summe zu nennen.“

„Kommen Sie im Auftrage des Herrn Legationsrats?“ fragte der Prinz mit unbewegtem Gesicht, jedoch Hermann scharf betrachtend. Er fühlte unwillkürlich, daß dieser Mann ihm feindlich gegenüberstand.

Weßnitz war einen Augenblick verwirrt. „Nein, das nicht.“

„Nun, dann bleibt diese Sache wohl Kavaliergeheimnis zwischen Ihrem Herrn Bruder und mir.“

Hermann drückte beide Hände fest auf die Seitenlehnen seines Sessels. „Verzeihen Sie, ich bin anderer Ansicht. Ich stehe hier als Vertreter der Familie, verantwortlich für die Handlungen ihrer Mitglieder.“

„Das verstehe ich nicht,“ erwiderte der Prinz trocken. „Weshalb kommt Ihr Herr Bruder nicht selbst?“

„Er weiß nichts von meinem Besuch hier.“

„Nun, dann –“ meinte jener unglaublich hochmütig und zuckte die Schultern.

Hermann fühlte, wie es in ihm kochte, aber er zwang sich gewaltsam zur Ruhe. Durch Heftigkeit konnte er die Partie nur verlieren.

„Durchlaucht belieben, sehr lakonisch zu sein. Gut, so will ich Ihnen den Grund meiner Handlungsweise auf andere Art klarlegen. Sie verkehren seit langer Zeit im Hause meines Bruders, sehr häufig, sehr intim; Sie suchen überall die Gesellschaft meiner Schwägerin – wir sprachen gleich am ersten Tag unserer Bekanntschaft darüber.“

Der Prinz zuckte unmerklich zusammen, doch unterbrach er die Rede Hermanns nicht.

„Ich weiß,“ fuhr dieser fort, „daß der Ruf meiner Schwägerin darunter leidet, ich weiß auch, daß meines Bruders Finanzen in Unordnung sind, daß er nicht imstande ist, aus eigenen Mitteln seine Schuld zu tilgen. Ich könnte ihm nun das Kapital geben, um ihn moralisch frei von Ihnen zu machen, in der Hoffnung, daß er Sie dann ersuchen würde, Ihre Besuche in seinem Hause einzustellen oder wenigstens einzuschränken – bitte, ich bin noch nicht fertig!“

Prinz Sissi war aufgesprungen.

„Bis hierher wäre alles korrekt. Aber die Rolle des beleidigten Ehemanns ist schwer durchzuführen, wenn man dem Liebhaber seiner Frau gegenüber Verpflichtungen hat, ja das ist unmöglich, ohne daß der Frau selbst alles klargelegt wird, und diese Frau, die mit mir wie eine Schwester aufgewachsen ist, diese Frau Durchlaucht, muß geschont werden!“

Es war totenstill zwischen den beiden. Auch Hermann hatte sich erhoben.

„Und wenn ich Ihnen das Recht Ihrer Beschützerrolle nicht zugestehe, Herr von Weßnitz?“

„Sie müssen es als Ehrenmann!“

Dem Prinzen entfuhr ein russischer Fluch. „Ich muß? Ich will nicht müssen! Ich habe nie gemußt in meinem Leben.“

„Aber ich will es, Durchlaucht!“

Hermann sprach ruhig; seine grauen Augen hafteten durchdringend, eiskalt auf dem Prinzen, und dieser fühlte mit Unbehagen die rücksichtslose Willenskraft seines Gegners.

„Ich frage noch einmal, wie hoch ist die Summe?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_550.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)