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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Es war etwas Schändliches, Entsetzliches geschehen und er sollte helfen! Helfen, immer helfen! Nicht mit Faust oder Herz, nein, mit Gold, mit elendem rollenden Gold! Was sonst trieb die Lore ohne vorherige Ankündigung durch Schnee und Sturm hierher, vor seine Füße?

„Hermann!“

Er fühlte, wie ihre Gestalt schwer an seinen Knien lehnte, wie das Kind mit schwachen Händen nach der Mutter tastete. Langsam beugte er sich hinab und hob sie empor. Wie leicht sie war, als er sie auf den Armen zum Sofa trug! Schwer sank ihr Kopf auf die gepolsterte Lehne. War das die Lore von einst – dies abgezehrte Gesicht mit den hervortretenden Backenknochen und den vielen Falten an den eingesunkenen Schläfen?

Er flößte ihr starken Wein ein. Leise, sanft wie einem Kinde strich er ihr mit der harten Hand über die Stirn. „Sei ruhig, Lore, Du bist bei mir! Was hat er gethan? Was ist geschehen? So sprich doch, Lore! Zu mir, Deinem Bruder!“

Ein erleichternder Thränenstrom rann über ihre Wangen.

„Was er gethan? Ich soll es sagen, ich, sein Weib – dem Bruder – daß mein Mann ein – ein Betrüger ist?“

Hermann taumelte zurück.

„Das – das kann nicht sein! Mein Bruder ein Betrüger?“

„Ja, Dein Bruder! Vor zwei Tagen war’s, da gestand er mir alles. Gespielt! Gespielt seit zwei Jahren! Davon haben wir gelebt – von dem Sündengeld gezehrt. Dann ließ ihn eines Tages das Glück völlig im Stich. Bruno – half sich. Vom Spieler zum Fälscher! Ein Wechsel, nur ein elender Fetzen, aber der Name Weßnitz steht darunter – Hermann von Weßnitz! O es ist zum Wahnsinnigwerden!“

„Wie viel beträgt die Summe?“ fragte Hermann. Es lag etwas Metallhartes in seiner Stimme.

„O nicht viel – eine Kleinigkeit für Bruno . . . nur dreißigtausend Mark!“ rief Lore mit unheimlichem Lachen.

Vor Hermanns Augen tanzten rote Schatten. Dreißigtausend Mark!

„Kannst Du helfen?“ stammelte Lore, „sag’, kannst Du? Nein, nein – ich seh’ es an Deinem Gesicht. Hilf, Himmel! Er kann nicht mehr helfen! Und Bruno hat mir versprochen, geschworen, er wolle nichts beginnen vor morgen früh acht Uhr, aber dann – dann – wenn keine Nachricht kommt –“

„Nun dann, Lore?“

„Dann schießt er sich tot!“

„Das thut er nicht, der Feigling!“ stieß Hermann ingrimmig hervor.

Sie starrte ihn eine Weile an, dann begann sie wieder zu schluchzen, krampfhaft, verzweifelt.

„O, Du magst recht haben. Sein Stolz ertrüge es nicht, sagte er, seine Schande zu überleben. Ich kenne aber seinen Stolz ... er hat keinen Stolz mehr und keine Ehre! Ich kann ihn nicht einmal mehr achten. Aber sieh, hier, meinen Sohn! Dem möchte ich die Ehre retten, dem sollen sie nicht dereinst die Schmach seines Vaters gellend in die Ohren schreien, der soll sich nicht des Namens Weßnitz schämen müssen! Und deshalb flehe ich Dich an: rette uns!“

„Ich werde es thun!“

„Du telegraphierst sofort?“

„Ja!“ Ein hartes trockenes Ja war es.

Dann schickte er Lore mit dem Kinde zur Ruhe, willenlos folgte sie seinen Anordnungen.

Wieder war er allein. Wieviel war es doch? Dreißigtausend Mark, richtig! Genau so viel hatte er nach dem Tode seines Vaters mit Mühe auf das Gut aufnehmen können und in die Wirtschaft gesteckt, nur um überhaupt imstande zu sein, weiter zu arbeiten. Und nun? Wenn es je möglich war, das Geld zu schaffen, wie dann das Gut halten? Und schließlich – wozu das alles? War nicht auch diese neue Summe nur ein Tropfen auf einen heißen Stein? Würde dieser Brnder mit seiner ehrlosen Gesinnung nicht stets den Namen derer von Weßnitz wie ein Verhängnis mit neuer Schande bedrohen? Aber dennoch – es war sein Bruder, ein Weßnitz! Und wenn sie ihm das Blut aus den Adern saugten, er mußte, solange noch ein Tropfen davon vorhanden war, sich aufbäumen dagegen, daß ein Weßnitz ins Zuchthaus kam!

Da flackerte die Lampe, ein leises Rauschen, langsam wandte er den Kopf. Dicht vor ihm stand Lore, im hastig übergeworfenen Schlafrock, in wuchtigen goldenen Wellen rieselten die Haare hinab bis auf die Hüften.

„Lore!“ schrie er auf.

Ein mattes Lächeln huschte über ihre Züge. Aus ihren tiefen dunkel geränderten Augen flackerte etwas Unruhiges, Gespensterhaftes. Mit einer seltsam starren Bewegung hob sie die Hände, die weiten Aermel fielen zurück von ihren Armen, die krankhaft mager waren. „Hermann!“

Er erschrak über den heiseren Klang ihrer Stimme, ihre Hand ergreifend, die glühend heiß in seiner brannte, führte er sie zu einem Sessel. „Setze Dich! Was möchtest Du noch von mir? Du solltest schlafen!“

„Schlafen? Ich kann nicht schlafen.“ Liebkosend glitten ihre Finger über seine Rechte. „Wie gut die Hand ist! Nur bei Dir sein wollte ich, mich schauert’s allein in meinem Zimmer, und ich hörte Dich auf und ab wandern. Gieb es doch zu, Du kannst nicht helfen! Sag’ es offen, Du ruinierst Dich selbst!“

„Nein, nein, ich will helfen,“ wehrte er ab.

„Und Edda? Wie steht es mit Euch beiden? Hast Du sie nicht lieb gehabt?“

„Das ist vorbei, Lore!“

„So, so, auch vorbei!“

Ihn fröstelte bei ihrem Anblick.

„Merkwürdig,“ fuhr sie fort, den Kopf in die durchsichtige Hand stützend, „wir haben so manches ,Wunderknäuel’ aufgewickelt als Kinder und fanden immer schöne Sachen darin, und nur unser Leben, Dein Leben – –“

„Das Leben ist nicht schön, Lore!“

„Rein, es war nicht schön.“ Sie senkte das Haupt, dann begann sie aufs neue mit tonloser Stimme: „O doch, damals als Edgar geboren wurde, ja, da war es schön, und dann zu Anfang in Berlin, als Du so häufig kamst, um mit mir zu plaudern und als alles so ruhig wurde in mir, so oft Du mit mir gesprochen. Sag’, Hermann, war es nicht schön damals? Nein, nein,“ schluchzte sie auf, „es war Lüge, alles Lüge! Hermann, was war das nur in mir damals, als er zurückkam aus Frankreich? Warum nur hab’ ich Bruno die Hand gereicht? Als wir uns in Berlin wiedersahen, Hermann, da wußte ich, daß ich ihn und Dich verwechselt!“

„Laß!“ stieß er stöhnend hervor.

„Nein nein, ich will es sagen! Es ist ja nun alles vorbei. O wie ich an Dir gehangen! Wie ich Dich geliebt! Ja, ja – es war Sünde, aber Dich hab’ ich doch allein lieb gehabt, jetzt weiß ich es genau, und das hat mich gerettet vor jenem Russen!“ Sie schauerte zusammen. „Weißt Du, was es heißt, wenn man den Bruder seines Mannes liebt? Kannst Du diese Qualen fühlen? Kannst Du ermessen, wie schwer es war, Dich ruhig neben dieser Edda zu sehen? Und alles das umsonst – vorbei! Hermann!“ Blitzartig sprang sie auf, hing an seinem Halse. „Hermann, laß mich Dir danken! Nur ein einziges Mal laß mich Dich küssen!“

Ihm hämmerten die Pulse. Alles, was er niedergerungen, die ganze Liebe seiner Jünglingsjahre wallte in ihm auf. Dies Weib, die Lore, in seinen Armen, diese Lippen, die zu ihm aufstrebten und dann diese Augen – doch nein, das waren nicht die Augen einer Gesunden, es flackerte darin etwas Fremdes, Unbewußtes, Wahnwitziges! Er schob sie zart von sich. Sie schwankte und ächzend sank sie zu Boden. Bestürzt hob er sie auf, trug sie in das Schlafzimmer und klingelte nach dem Diener. Die Haushälterin wurde geweckt; sie entkleidete Lore, die sich im Fieber hin und herwälzte.

„Den Schatten, die Rappen!“ herrschte Hermann den Kutscher an, den er hatte rufen lassen.

„Bei der Nacht, gnädiger Herr?“

„Es muß sein! Schnell, wir müssen den Doktor aus der Stadt holen!“

Und über die Heide ging es in wildem Lauf, mit keuchenden Pferden. Der weiße Schaum ihrer Flanken mischte sich mit dem stiebenden Schnee, und immer wieder flog die Peitsche pfeifend auf ihren Rücken nieder. Durch Hohlwege und über kahlgewehte Höhen, immer weiter! Der Mann im Schlitten kannte kein Erbarmen. In der Ferne blinkten endlich Lichter, der alte Kutscher atmete auf, die breite Landstraße war erreicht. Noch ein letzter Peitschenhieb und in sausendem Galopp flog der Schlitten hinein in die menschenleeren Straßen der kleinen Kreisstadt.

(Schluß folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_571.jpg&oldid=- (Version vom 28.7.2022)