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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

gern haben, kommen auch zu einem Butterbrot und einer Tasse Thee zu uns. Ich, ich war doch nie ein Bratenjäger, oder – vermißt Du die Bälle zum Fasching in Köln?“

„O, ich? Nein! Nein!“

„Nun, Helene, dann sind wir die glücklichsten Leutchen der Welt – wenn Du willst, wenn Du die Thränen aus den Augen wischst und lachst. Oder sind wir’s nicht? Haben wir uns nicht lieb? Und haben wir nicht –“ und er machte eine Bewegung zu mir herüber mit einer komischen Grimasse, „haben wir nicht ein ganz leidliches Kind? Ich gebe ja zu, sie könnte ein wenig artiger, ein wenig hübscher sein – aber – hm!“

Und wenn ich dann jubelnd und ihn küssend in seine Arme flog, dann flüsterte er: „Geh’ zu Deiner Mutter, gieb ihr einen Kuß, sie wird sonst eifersüchtig; und nachher komm’ in den Garten, wir wollen wettlaufen.“

Ja, allen Ernstes, wir spielten da drunten miteinander wie zwei wilde Jungen, unbeschadet seiner väterlichen Würde. Von meinem Vater lernte ich Klettern und Rudern und Turnen und allerlei dumme Streiche, wie er lachend sagte. Von ihm lernte ich auch, gern und freudig der Armut geben, denn keiner, der ihn ansprach, ging unbeschenkt davon. Er gab ebenso rasch und gern seine paar Groschen, wenn er wirkliches Elend sah, wie er rasch und freudig sein ganzes kleines Vermögen geopfert hatte, um dem Onkel Herbert, dem einzigen Bruder meiner Mutter, die Fortsetzung seiner Studien zu ermöglichen, denn gerade als dieser vor dem juristischen Doktorexamen stand, starb der alte General von Plattenhausen, der Vater Mamas, und da er nichts als seine Pension besessen hatte, so wäre Onkel Herberts Laufbahn geschlossen gewesen, wenn sich sein Schwager nicht erboten hätte, die Mittel zu gewähren, deren er noch bedurfte.

Ob der Verlust des kleinen Vermögens meinen Vater ernstlich schmerzte, das haben wir nie erfahren; gezeigt hat er es uns nie. „Helene,“ pflegte er zu sagen, wenn er den lächerlich kleinen Rest seines Gehalts, dessen sich ein Gymnasiast als Taschengeld geschämt haben würde, in die Börse steckte, „Helene, wenn man nur immer vier Groschen drüber hat, mehr kann schließlich kein Prinz verlangen.“

„Bist hoffentlich ausgekommen, Frau?“ neckte er manchmal, „oder hast Du den Burschen angepumpt?“

Es wurde ihm nicht schwer, das Armsein zu ertragen.

Ungemütlich wurde es ihm erst im Hause, als Herr Wollmeyer das „Schloß“ – so hieß nämlich der alte große Fachwerkbau mit dem runden Treppenturm – kaufte. „Hätte mir der Serrenburg doch nicht anthun sollen!“ äußerte er, als der Herr Stadtrat ihm brieflich anzeigte, er sei der künftige Hauswirt. „Aber freilich, Lenchen, das Messer saß ihm an der Kehle, dem armen Burschen. O das Geld, das schreckliche Geld!“

Und der Herr Stadtrat zog ein mit einem ganzen Wust von neuen stilvollen Möbeln und altem spießbürgerlichen soliden Hausrat, von dem seine Frau sich nicht hatte trennen wollen. Vorläufig wohnte er im Erdgeschoß, erzählte aber allen Leuten, wenn Herr Major von Sternberg einmal versetzt werde, würde er den ersten Stock beziehen. Wir hatten übrigens, beiläufig gesagt, nur die Hälfte dieses Stockwerks inne, und zwar die kleinere Hälfte, der Tanz- und Ahnensaal und die Waffenhalle waren überflüssige Räume für uns, und hier hätte Herr Wollmeyer schon wohnen können. Dennoch richtete er sich also vorläufig im unteren Geschoß ein; Hannchen wollte durchaus nichts von Treppensteigen wissen, und ihr Arzt unterstützte sie darin. In den Ruf eines rücksichtslosen Gatten wollte er sich nicht bringen lassen, er sprach vielmehr immer sehr liebevoll mitleidig von seiner „guten“ Frau, und so paradierten denn die mit geblümtem Wollmusselin bezogenen Birkenmöbel im Erdgeschoß des „Schlosses“ wie zuvor im Hause auf der Wasserstraße, und der Herr Stadtrat begnügte sich, seine Besuche in dem stilvoll ausgestatteten Herrenzimmer zu empfangen und mit einem Verständnis heischenden Augenblinzeln zu betonen, daß Hannchen, die gute Seele, so sehr an ihren Gewohnheiten hänge – er wolle sie nicht betrüben.

Das Verhältnis zwischen Wirt und Wirtsleuten war recht wunderlich; der Herr Stadtrat machte „Majors“ förmlich den Hof so lange es ihn nichts kostete, selbstverständlich. Auf baufällige Oefen oder sonstige dringend gewünschte Ausbesserungen ließ er sich nicht ein, dagegen sah er sehr gern die stattliche Gestalt meines Vaters durch seine Hausthür schreiten und noch lieber an seiner Tafel sitzen, wenn er die Honoratioren der Stadt zum Mittagessen bei sich hatte; und ebenso ward der Adjutant meines Vaters sehr gut behandelt. Geradezu ausgesucht aufmerksam aber war des Stadtrats Benehmen meiner Mutter gegenüber, die im ganzen Städtchen als das Muster einer vornehmen Dame verehrt und bewundert wurde.

Mein Vater vergalt das alles mit einer eisigen bis zur Grenze des Möglichen gehenden Zurückhaltung. „Von der alten Frau ist mir der kleine Finger lieber als ihr ganzer Herr Gemahl,“ pflegte er zu sagen, und ihr gegenüber war er der ritterliche liebenswürdige Mann, genau so, als sei sie eine wirkliche Dame.

Meine Mutter war gegen beide freundlich, das heißt von einer Freundlichkeit, die zwischen sich und der Person, der sie gilt, einen breiten Strich zieht, der von dem Stadtrat freilich nicht beachtet, von seinem Hannchen und der Base aber sorgfältig respektiert wurde.

Vor der Base empfand sogar mein Vater Hochachtung. „Siehst Du, Lenchen, das ist ein Frauenzimmer von echtem Schrot und Korn das ist eine, resolut wie ein Grenadier und weich wie eine rechte Frau. Wo die das Regiment führt, da ist gut sein, da geht’s ordentlich her, da ist die Wäsche schneeweiß und das Essen wohlschmeckend, da bekommt Gesind’ und Vieh sein Recht und da findet man ein gutes Wort in Sorg’ und Kümmernis. Ich weiß schon, Lenchen, warum Du lachst, aber ich sage Dir, ihr schauderhaftes Deutsch ist mir lieber als die schönste Salonsprache. Der alte Wrangel sprach auch nicht richtig. Fürs prakkische Leben giebt’s keine Bessere! Die und die Komtesse – alle Achtung, das ist ein gutes Gespann, Lenchen!“

Ich habe vielleicht nie mehr an diese Worte gedacht, nie mehr ihre Wahrheit erkannt als in jenen schweren Tagen, da für mich und meine Mutter jählings das Licht unseres Lebens erlosch und plötzlich die finstere Nacht hereinbrach, da mein Vater starb nach kaum zweitägigem Krankenlager. Damals war es, wo ich zum ersten Mal inneward, daß auch die alte unscheinbare Base ein Engel, ein Schutzengel und zwar der meinige sei. Als sich mein Kopf an ihre mühsam atmende Brust legte und ihre vom unterdrückten Weinen heisere Stimme in dem oft belächelten schlechten Deutsch sagte: „Hast viel verloren, Annelieseken, wein’ Dich aus, sonst stößt es Dich das Herz ab. Als mein Hannchen gestorben war, ging’s mich auch so, und erst nach dem Weinen kam ich zu mich selbsten“ – da meinte ich zu fühlen, wie die unsichtbaren Engelsschwingen sich um mich legten, lind und weich und tröstlich, so daß mein wilder Schmerz in Thränen sich auflöste.

Und wie eine Mutter, so sanft und liebevoll nahm sie sich der Witwe an. Meine Mutter war noch jung damals, eben zweiunddreißig Jahre, und ihr verstörter armer Kopf vermochte es nicht zu fassen, daß ihres Lebens Halt und Stab, ihres Lebens große Liebe dahingegangen sei. Nächtelang saß die Base am Bett der fiebernden verzweifelnden Frau, die immer nur von Gott forderte, daß er auch sie fortnehmen solle, denn sie könne nicht leben ohne den Gatten. Geduldig hörte die alte treue Seele das an. Als aber die Ausbrüche der Verzweiflung einem starren Schweigen wichen, als völlige Teilnahmlosigkeit eintrat, da hielt mein Schutzengel eine lange Rede und brachte Licht und Willenskraft zurück in den armen kranken Kopf der jungen Witwe.

„Da steht auch das Annelieseken, gnädige Frau, sieht aus wie vom Wind zerzaust, so unordentlich. Es hat sie, glaub’ ich, auch seit ein stückener acht Tagen keiner die Haare mehr gekämmt. Wäre sie man ein paar Jahr’ älter, dann könnt’s schon gehen mit ihr, wenn Sie sich unter die Erde gebracht haben mit Ihrem Kummer, aber sie ist man erst dreizehn, und ich denke, das ist ein bißchen zu jung ohne Mutter. – Annelieseken, komm’ ’mal her, mein’ Tochter, zeig’ Dich ’mal der gnädigen Frau! Du bist ja ganz naß! Bist wieder im Regen auf Deines Vaters Grab gewesen? Na, denn erkälte Dich nur, ich kann’s nicht ändern, wenn Du zuletzt die Lungenentzündung bekommst und stirbst.“

Meine Mutter hatte sich aufgerichtet und mich mit so verwunderten bestürzten Augen angesehen, als erblickte sie mich zum ersten Mal auf dieser Welt; dann streckte sie heftig die Arme nach mir aus. „Ach Du,“ schluchzte sie, „Du armes armes Ding, was soll werden aus Dir ohne ihn, ohne ihn!“

Mein Schutzengel ging leise hinweg, und wir weinten zusammen in dem Bewußtsein, daß, wenn uns auch viel genommen war, doch in unserem gegenseitigen Besitz uns noch viel geblieben sei.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 599. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_599.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2022)