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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Nichte und über die schlangenglatte Gewandtheit, mit der er es verstand, sich um die Tante herumzudrücken, die ihn ersichtlich stellen und fangen wollte – es war die reine Treibjagd. Was der Bengel alles an- und aufstellte, um nicht Hals geben zu müssen, war einfach unglaublich. Endlich, kurz vor Tisch, fanden wir vier Spießgesellen uns in einem der Nebenzimmer wieder bei einander. Solten stürzte ein Glas Bier hinunter.

‚Ich bin ganz zu Ende!‘ rief er und warf sich neben unserer jungen Wirtin in einen Stuhl, die Thür im Rücken. ,Heut’ abend kann ich mir lebhaft vorstellen, wie einem Hasen zu Mut ist, hinter dem ein alter wütender Jagdhund her ist – Verzeihung, gnädige Frau, für die Bildersprache!‘

,Bitte!‘ sagte Frau von Odenstern lachend. ‚Aber wie steht es denn mit dem Schatz, den der ‚alte. wütende Jagdhund‘ verteidigen will?‘

Solten machte nur eine leichte abwehrende Bewegung mit der Hand – er sah ganz ernsthaft aus und schwieg. ‚Aha!‘ dachte ich bei mir, ,den Mann hat’s!‘

Während wir so im schönsten Frieden bei einander saßen und nichts Böses ahnten, raschelte es hinter uns – die Tante stand da! Wir alle fuhren zusammen wie die Kinder, die beim Aepfelstehlen ertappt werden. Solten sprang von seinem Stuhle in die Höhe. ‚Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten, mein gnädiges Fräulein?‘ und wollte rasch an ihr vorbei zur Thür hinaus. Aber diesmal war die Tante entschlossen – sie hielt ihr Opfer einfach am Rockärmel fest. ‚Einen Augenblick, Herr von Solten,‘ sagte sie mit der uns nur zu wohl erinnerlichen Flötenstimme, ,ich möchte Sie nur etwas fragen – habe ich Sie nicht schon einmal gesehen?‘ Und dabei krallte sie sich mit ihren scharfen Augen ordentlich in sein Gesicht ein – es war schauerlich!

Solten machte eine nachdenkliche Miene, dann schüttelte er langsam den Kopf. ‚Unmöglich, mein gnädiges Fräulein,‘ sagte er mit vollster Sicherheit, ‚ich würde eine solche Begegnung doch nie vergessen haben.‘ Und dazu ein Blick auf die Tante, als wenn sie eine Venus von sechzehn Jahren wäre.

Aber die Tante blieb ungerührt. ,Mir ist doch so!‘ fuhr sie fort, ‚besinnen Sie sich einmal! Auf dem Bahnhof in Berlin!‘

Solten sah sie so recht unschuldig und ehrlich an – es hatte etwas Rührendes für den unbefangenen Zuschauer. ‚Aus dem Bahnhof?‘ fragte er voll aufrichtigen Staunens.

,Ja, auf dem Bahnhof!‘ wiederholte die Tante, die nur um so ärgerlicher wurde, je unzweifelhafter sie bei der längeren Unterhaltung seine Identität feststellen konnte, ,auf dem Bahnhof – und Sie haben sich sehr ungezogen benommen!‘

,Ich?‘ sagte Solten kläglich und mit einer Unschuldsmiene. ,Aber das ist ja scheußlich von mir! Das hätte ich mir wirklich gar nicht zugetraut! Ich bin sonst immer sehr artig, mein gnädigstes Fräulein – fragen Sie nur ’mal meinen Freund Vahlberg hier!‘ Er sah dabei so unbefangen und vergnügt aus, daß die Tante wirklich anfing, zu zweifeln – aber sie wagte noch einen letzten Sturm. ‚Denken Sie einmal an gestern abend!‘ sagte sie drohend.

,Gestern abend, und auf dem Bahnhof?‘ fragte Solten wieder zurück. ‚Aber das ist ja unmöglich! Ich bin ja schon seit übermorgen bei meinem Freunde Odenstern zu Besuch!‘

Wie diese erneute Unverschämtheit, die er mit der größten Eleganz herausschmetterte, abgelaufen wäre, das kann man nicht wissen; aber der Zufall, der entschieden bei dem dreisten Schlingel zu Paten gestanden und ihn in seine besondere Obhut genommen hatte, half ihm auch hier wieder aus der Patsche. In eben dem Augenblick, in dem die Tante noch verdutzt dastand, wurde die Thür aufgerissen, der Diener erschien und rief mit Donnerstimme: ,Ich bitte zum Souper!‘ Und in der allgemeinen Verwirrung gelang es Solten, zu entkommen und sich seiner Tischnachbarin, selbstredend der reizenden Nichte, zu versichern.

Wir, das heißt Odensterns und ich, saßen ganz in der Nähe des jungen Paars, und Fräulein Ilse wurde von uns allen gemeinschaftlich in die Schandthaten ihres Tischherrn eingeweiht. Man wird sich denken können, wie vergnügt unsere Ecke dabei war. Soltens Laune sprudelte an dem Abend wie Champagner, und ich dachte heimlich bei mir: ,Wenn sich das reizende Mädel nicht in ihn verliebt, so soll mich’s wirklich wundern!‘ Es ließ sich aber nicht so an, als sollte ich besondere Ursache zum Wundern bekommen! So schien denn nun alles über Erwarten glatt und gut abzulaufen. Allein man soll den Tag nicht vor dem Abend und den Abend nicht vor dem Morgen loben. Wir tranken uns gegenseitig fleißig zu, der Sekt floß reichlich, und unser guter Hauptmann Odenstern wurde so lustig und lebhaft, daß er – weiß der Teufel warum! – alle Vorsicht vergessend, sein Glas erhob und in eine plötzlich eingetretene Gesprächspause hinein mit vernehmlicher Stimme ausrief: ‚Prosit, Solten – der verstorbene Bahnhofsinspektor soll leben!‘

Diesem überraschenden, dem größten Teil der Gesellschaft völlig unverständlichen Trinkspruch folgte naturgemäß kein allgemeines Hoch- und Hurrageschrei, sondern ein allgemeines verblüfftes Stillschweigen. Und die Tante, die uns nah genug saß, um alles zu hören, fuhr wie von der Tarantel gestochen von ihrem Ehrensitz in die Höhe. ,Also doch!‘ rief sie und schien furchtbar werden zu wollen. Aber Solten, den Stuhl zurückgeschoben, daß er umkrachte, mit dem Sektglase in der Hand über die Stube chassiert und vor der Tante auf ein Knie. ,Mein gnädigstes Fräulein, liebenswürdigste Wirtin – nun ja, ich bin’s gewesen! Ich gestehe es reumütig ein. Aber nun seien Sie mir auch wieder gut! Sehen Sie mich doch einmal freundlich an – ich bin ja doch im Grunde ein riesig netter Kerl!‘

Und die Tante, die wohl den Drachen mehr äußerlich haben mochte, warf einen Blick in das bildhübsche lustige bittende Gesicht da vor ihr und gab dem Schlingel einen kleinen Klaps mit ihrem Fächer. ,Na, dann wollen wir’s gut sein lassen!‘ sagte sie und lachte.

Da stand Solten auch schon wieder auf den Füßen. ‚Das wußt’ ich ja!‘ sagte er vergnügt, küßte ihr die Hand und kam zu uns zurück, so triumphierend, als wenn er eine Schlacht gewonnen hätte. Nach dieser Katastrophe wurde es nun erst recht animiert in der Tafelrunde. Alles wollte die Geschichte vom ,verstorbenen Bahnhofsinspektor‘ hören, alles amüsierte und freute sich darüber, und Solten war wieder einmal der Held des Tages – oder des Abends. Und dann stand er auf und schlug ans Glas. Er brachte einen Trinkspruch auf die Tante aus, in dem er sie in den feurigsten Worten pries – in Versen, bei denen sich ungefähr Herzensdrang auf Leberwurst reimte, was aber dem poetischen Wert weiter keinen Eintrag that – und seine Rede hatte ihre Wirkung! Die Tante drohte ihm noch, um den Schein verletzter Würde zu retten mit dem Finger, aber der Schlingel hatte sie doch erobert, wie er es mit allen Leuten fertig kriegte, und sie tanzte sogar nach Tische eine Extratour mit ihm. Das war denn doch der größte Triumph, den er je gefeiert hatte.

Daß die Abenteuer jener vierundzwanzig Stunden mit diesem Ball nicht zu Ende waren, daß wir beide, Solten und ich, unsern liebenswürdigen Wirten, den Odensterns, von Berlin aus einen Blumenkorb schickten, der sich sehen lassen konnte, daß wir ferner nach kurzer Zeit unsern Dankbesuch bei der Tante abstatteten und den Beweis lieferten, daß wir uns auch bei Tageslicht ganz gut präsentierten – das versteht sich eigentlich von selbst, und ich brauchte es demgemäß gar nicht erst zu erzählen. Aber daß die Sache noch ein Nachspiel fand, in dem Solten nicht nur die Tante, sondern, was ihm wohl noch lieber war, auch die Nichte bezauberte, daß er erst mit mir und dann ohne mich alle paar Tage zu den Damen hinausfuhr und durch beständiges Betteln um Urlaub seinen Vorgesetzten an den Rand der Verzweiflung brachte, daß er schließlich als strahlender Bräutigam der reizenden Ilse von einer dieser Urlaubsfahrten zurückkam und nun erst recht alle drei Tage verreisen wollte – das muß ich doch noch berichten. Und wenn meine Geschichte vollständig sein soll, darf ich nicht verschweigen, daß der Tollkopf von damals ein famoser Ehemann geworden ist, der sich aber die alte Schneidigkeit und die alte Liebenswürdigkeit bewahrt hat. Er thut jetzt, als wenn er immer so verständig gewesen wäre, und hat sogar die Stirn, seinen heranwachsenden Jungen bei ihren dummen Streichen kopfschüttelnd zu sagen: ,Ich begreife gar nicht, wie Ihr so ausgelassen sein könnt, ich war als junger Mensch viel verständiger!‘ Und die Jungen sehen ihn dann pfiffig an und glauben’s nicht, denn sie sind gerade solche Schlingel, wie ihr Herr Papa gewesen ist.

Das ist die Geschichte von Soltens tollem Streich,“ schloß der Major und goß sich ein frisches Glas ein.

„Aber eine Unverschämtheit sondergleichen war es doch!“ sagte einer der Zuhörer, „und wenn Ihr nicht ein Paar so schmucker Lieutenants gewesen wäret –“

„Wir waren es eben!“ schmunzelte der Major, „das ist ja die Sache!“


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_664.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2023)