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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

War es der Gegensatz dieser Einsamkeit zu dem Lärm des Gelages, von dem er kam? Und führte der zufällige Umstand, daß Afra in ihren Versen die oberste Gottheit mit dem hellenischen Namen Zeus genannt hatte, die Einbildungskraft des Menenius nach Griechenland?

Mit einem Mal gedachte er jener griechischen Jünglinge, des Biton und des Kleobis, die so berühmt geworden durch ihre kindliche Liebe zur Mutter und durch ihr seltsames Ende ... Gerührt über die Pietät dieser vortrefflichen Söhne, die ihren, der Priesterin, Wagen bei der festlichen Prozession zu Ehren der Göttin Hera fünfundvierzig Stadien weit fortzogen, weil das Gespann ausblieb, hatte die Mutter zur Göttin gebetet, sie möge den teuren Kindern aus dem unendlichen Schatz ihrer Gnade das Beste spenden – das Beste, ganz wie es hier in dem Distichon hieß! Und siehe, die Söhne, nachdem sie geopfert hatten, legten sich nieder und schliefen ein, um nicht wieder aufzuwachen. Die gütige Göttin hatte das Flehen der Mutter erfüllt und das Beste gespendet, was sie zu geben hatte – den Tod!

Menenius fuhr sich über die Stirne. Ein sonderbares Spiel seiner Gedanken! Sterben! Wie kam er darauf, er, der Mann der ruhigen sonnigen Lebensfreude, der so ganz in der Gegenwart aufging? Und noch dazu jetzt, nachdem sich die Wogen, die ihm sein Glück bedroht hatten, dank dem Scharfblick und dem rastlosen Eifer des Ninus, völlig zu glätten begannen?

Er dachte nach Bajä hinüber, wo Plotina und seine dreizehnjährige Tochter wohl längst schon entschlummert waren. Sein Herz schwoll in heißer Liebe zu dieser unvergleichlichen Lebensgefährtin und zu der Kleinen, die so ganz das Ebenbild ihrer Mutter war. Wie gern hätte er die beiden nach dem Strande Kampaniens begleitet! Aber die Pflicht fesselte ihn einstweilen noch an die Hauptstadt, so sehr es ihn südwärts zog . . .

„Die Staatsgeschäfte!“ sagte er zu sich selbst. „Sie legen uns mitleidlos Ketten an!“

Nun stand er auf und wandelte, die Hände auf dem Rücken gefaltet, langsam durch das Gemach. Es war kein Wunder, wenn er sich nachgerade etwas vereinsamt fühlte. Cajus ging wie die meisten vornehmen jungen Leute tagsüber seinen eigenen Weg. Das würde sich ändern, wenn noch ein paar Jahre ins Land zogen und der Ernst des Lebens strenger an ihn herantrat. Vorläufig konnte der Sohn die Lücke nicht ausfüllen, die durch die Abwesenheit Plotinas im Haus und im Herzen des Vaters klaffte. Drei Wochen lang war Plotina jetzt fort! Wie freute sich Lucius Menenius auf ein baldiges Wiedersehen! In vierzehn Tagen schloß der Senat seine Sitzungen, und dann auf nach der Golfstadt!

Wie sich so ein Gedanke ihm aus dem andern herausspann, schwebte ihm deutlicher als bisher die heitere Jünglingsgestalt seines Cajus vor, der sich vom Zechgelage des Quästors Camillus trotz der schon vorgerückten Nachtstunde noch immer nicht hatte trennen können.

Menenius befand sich zu seinem eigenen Befremden in jener Gemütsverfassung, die allem die ernsthafte Seite abgewinnt. Zum erstenmal seit Jahren vielleicht schien ihm der Lebenswandel des Sohnes nicht ganz dem zu entsprechen, was von dem Sproß einer so alterlauchten Familie verlangt werden durfte. Menenius ahnte zwar nicht, in welche gefahrvollen Schlingen Cajus verstrickt war und wie der leichtfertige junge Mann just im Begriff stand, mit Hilfe des ägyptischen Priesters Selencius ein geradezu strafbares Gaukelspiel in Scene zu setzen; aber er sagte sich doch, daß Cajus viel zu wenig Teilnahme an den öffentlichen Geschäften, viel zu wenig Interesse an den Dichtern und Philosophen bekunde, während er auffällig wohl beschlagen war in der Kenntnis der neuesten Pantomimen, in der Beurteilung aller Zirkusverhältnisse und im Abschätzen samischer, chiischer und kampanischer Weine. Die Sorge stieg in Lucius Menenius auf, er habe sich seinem Sohne gegenüber wohl zu nachsichtig und zu arglos erwiesen. Die Milde war gut bei der Behandlung gefesteter Charaktere, die durch Nachgiebigkeit und Huld nicht verdorben wurden. Ein Jüngling wie Cajus dagegen bedurfte der streng führenden Hand, wenn er nicht unversehens auf Abwege oder gar ins Verderben geraten sollte.

Gewisse Anzeichen, die Lucius Menenius bis jetzt unbeachtet gelassen, zeigten sich ihm nun plötzlich in kaum geahnter Beleuchtung. Kein Zweifel, Cajus selbst war innerlich unbefriedigt von seinem Treiben; um der Schalheit und Oede neuen Reiz zu verleihen, verfiel er jetzt in das Ausgeklügelte, Kühne und Abenteuerliche. Hierfür sprach schon die Wahl seines Umgangs. Einige dieser Gefährten hatten es niemals gewagt, die sonst so gastliche Schwelle des Lucius Menenius zu überschreiten, weil sie wohl Grund zu der Voraussetzung hatten, daß der Senator sie unwirsch empfangen würde ...

Unter diesen Betrachtungen hatte sich Lucius langsam entkleidet. Er löschte die Ampel, sprach ein kurzes Gebet und streckte sich tief atmend auf seine Ruhestatt. Aber er konnte nicht einschlafen. Es lag über ihm wie ein bängliches Vorgefühl, wie der Druck eines unklaren Gedankenkreises, dessen Mittelpunkt Cajus war. Wenn er nur eine Aufgabe für den Jüngling gewußt hätte, die ihn sofort und mit Nachhaltigkeit in Anspruch nahm! Der Weg zu den Staatsämtern mußte für Cajus langwierig sein, denn Leute, die sich bis in ihr dreiundzwanzigstes Jahr so ganz und gar nicht um diese Laufbahn gekümmert haben, werden natürlich, wenn sie dann plötzlich einlenken, nicht sofort von der Staatsregierung mit weit geöffneten Armen aufgenommen. Auch die Schriften der hellenischen Weltweisen kann man nicht heute zum Lebensberuf machen, wenn man sie gestern kaum eines Blickes gewürdigt hat.

„Allgütiger und allmächtiger Jupiter, lenk’ es zum Besten!“ murmelte Lucius Menenius mit einem Seufzer, nachdem er sich fast eine Stunde lang auf den Polstern herumgewälzt hatte.

Und wieder berührten ihn die Worte „zum Besten“ ganz eigentümlich ...

Wie sich aus einem Punkte eine ganze Kette von Bildern und Vorstellungen entwickelt! Lächerlich! Afra mit ihrem freundlichen Blumengruß hatte ihm also die Ruhe der Nacht geraubt! Die kleine hübsche Unheilstifterin! Auch Ninus, der Leibarzt, hatte ja ihrethalben, wenn auch in anderem Sinne, lange Nächte hindurch den Schlaf eingebüßt! Nun waren sie einig, und Lucius Menenius hatte die schöne Gelegenheit, dem Leibarzt, der sich alsbald ihm anvertraut hatte, seine unendliche Dankbarkeit für die Rettung Plotinas durch die That zu beweisen. ...

Lucius Menenius schmiegte sein Antlitz etwas beruhigter gegen das Kissen. Die Aussicht, mit freigebiger Hand für das Glück anderer sorgen zu dürfen, scheuchte das dumpfe Unbehagen, das ihn bis dahin gebannt hielt. Auch Afra hat es um uns verdient, dachte er frohmütig. Afra ist mir wie eine Tochter. Schade um sie, daß sie von unfreier Geburt ist! Eine seltsame Welt, die ihre Gaben so ungleich verteilt und oft die Sklavin mit Tugenden schmückt, deren die Edelgeborene entraten muß!

Bleischwere Müdigkeit senkte sich ihm nun plötzlich über das Haupt. Im Halbschlaf hörte er noch, wie draußen der Klopfer wieder die Pforte schlug. Schritte hallten gedämpft durch das Atrium, Fackelschein fiel eine Sekunde lang durch die halb nur verhangene Thür, an deren Eingang die beiden Sigambrer noch immer bewegnugslos auf den Polstern lagen. Das war Cajus mit seinen Begleitern, der nun endlich, lange nach Mitternacht, vom Gelage des übermütigen Quästors nach Hause kam.

Menenius lächelte. Sein fast schon erloschenes Bewußtsein war doch noch klar genug, um zu bemerken, daß Cajus trotz der zahllosen Becher, die er vertilgt haben mochte, ehrfürchtige Rücksicht auf den Schlaf seines Vaters nahm: er schlich auf den Zehen! Wohl, ein solcher Sohn war noch nicht aufzugeben, ob auch sein Leichtsinn und seine Trägheit üppig in Blüte standen!


Zwei Tage später hatte Lucius Menenius Morgenempfang. Der ehemalige Prätor und Konsul lebte zwar im Vergleich mit der Mehrzahl seiner Standesgenossen beinahe zurückgezogen; völlig indes konnte er sich den gesellschaftlichen Verpflichtungen seiner bevorzugten Stellung nicht wohl entziehen.

Vor Sonnenaufgang bereits wogte es in dem blumengeschmückten Atrium von weißen Galagewändern. Die senatorische Toga mit purpurnem Rande war dabei ebenso zahlreich vertreten wie die streiflose des Ritters und die grobwollige der Leute, die „nichts“ waren. Heliodorus, der Obersklave, dem die Geleitung der Gäste vom Eingange her oblag, glühte vor Aufregung, denn der lebendige Wunsch, dem Hausherrn Ehre zu machen, wirkte hier mehr als anderswo die Furcht vor der Strafe.

Einer der letzten, die von Menenius begrüßt wurden, war der Quästor Quintus Camillus. Der unverwüstliche Zecher hatte auch in der jüngstverflossenen Nacht gründlich geschwelgt; er würde sich ganz gewiß in seiner Morgenruhe nicht haben stören lassen, wenn es sich nicht um den Empfangstag gerade des allverehrten Lucius Menenius gehandelt hätte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 703. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_703.jpg&oldid=- (Version vom 25.3.2023)