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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Zeit bringt Rosen.

Novelle von Stefanie Keyser.

     (1. Fortsetzung.)

„Blau blüht ein Blümelein,
Das heißt Vergißnichtmein!“

Von weich tönenden Klarinetten geblasen, von anschmiegenden Geigen begleitet, zog die Melodie mit der warmen Sommerluft in die Stube, wo Hauptmann Holl in Broschüren und militärische Zeitschriften vergraben saß.

Also acht Uhr! Da begann das Frühkonzert der Badekapelle. Er selbst war um halb fünf Uhr aufgewacht, um sechs zum Baden angetreten, als außerdem nur die Gänseherde, ihre Gleichberechtigung mit den Sommerfrischlern auf der Promenade behauptend, ins Wasser schnatterte.

Ob jetzt Schubke, der Pferdebursche, wie ihm befohlen war, den Braunen ausritt? Ob der Premierlieutenant auch das Ausrücken zur Felddienstübung früh genug angesetzt hatte, damit die Mannschaften noch vor den heißesten Stunden ins Quartier kamen? Verdammt, daß gerade in dieser für einem Kompagniechef so wichtigen Zeit, wo man nur mit ärztlichem Attest Urlaub bekam, sein Arm den Dienst versagte! Aber was half’s? Das Uebel verschleppen, bis es sich festgesetzt hatte, lag einmal nicht in seiner Art. Gleich im Anfang mußte man es mit Stumpf und Stiel ausrotten.

Er tauchte die Feder ein. „Das Rekognoszieren des Feindes durch Streifpatrouillen –“

„Guten Morgen, Lulu!“ schallte es draußen.

„Croquetpartie gut bekommen, liebe Lolo?“

„Bemühen Sie sich nicht, Fräulein Gretchen, ich trage meinen Shawl selbst.“

Unwillkürlich horchte er, als müsse noch ein Name kommen. Er hob den Kopf nach dem Fenster. Frau Kern, der weibliche Vergnügungskommissar, ging eben mit dem Chor der Mütter als Nachhut hinter den Töchtern drein.

Hol's der Fuchs – schon wieder zerstreut! In seiner Garnison wohnte er gegenüber dem Halteplatz einer Pferdebahn und hörte das Pfeifen nicht mehr, und hier störte ihn jeder Laut. Das beste war, er suchte einen einsamen Weg zum vorschriftsmäßigen Morgenspaziergang und legte sich dabei den Plan der Arbeit zurecht. Er schob die Papiere zusammen und stand auf. Ah, da saß ja Schersen auf der Veranda! Den Posten hatte er sicher nur bezogen, um unter der Vorspiegelung eifrigen Zeichnens drüben den Ausgang der Kastanienvilla bewachen zu können.

Während Holl seine Toilette beendete, warf er einen raschen Blick hinüber. Jetzt öffnete sich die Thür des Nachbarhauses – Fräulein Gabriele Raunthal trat heraus – den Namen hatte sein Reisegefährte gleich gestern abend erkundet. Das war so recht der gute Schersen, wie er da überrascht aus seiner künstlerischen Versunkenheit aufwachte, beflissen emporsprang, ehrerbietig sich verneigte. Ohne ein bißchen Salonkomödie that er es nicht. Und richtig, nun machte er auch mobil und schwenkte ab.

Holls Augen bestrichen wieder mit raschem Blick die Wohnung der Damen. Noch immer geschlossene Vorhänge an einem der Zimmer? Sie war ein Schlafratz, die hübsche Ilse Großheim – er nickte bestätigend vor sich hin – mit allen Unarten eines verwöhnten einzigen Töchterchens behaftet. Nicht eines einzigen „Kindes“. Sie hatte ihm selbst von den beiden Brüdern Otto und Paul erzählt, die später, wenn der Vater sich zur Ruhe setzte, die Konservenfabrik übernehmen sollten. Aber die Firma konnte ein Divisionsexempel vertragen. Gestern im Zelt auf dem Anger, wo er noch ein Seidel trank, spitzten alle die Ohren als der Name Großheim genannt wurde. Uebrigens, was ging’s ihn an? Er hatte noch nie nach einem Goldfisch geangelt, Annäherungen von solchen an sich abgleiten lassen, Heiratsvermittlern die Thür gewiesen. Allerdings, zur Begründung einer Familie gehörte ein Kapital, aber es mußte ja nicht jeder eine Familie gründen.

Mit diesem Gedanken marschierte er ab und wählte einen der Wege, die sich hinaus in die Berge verloren. Sämtliche Alleen waren voll Spaziergänger, also höher hinauf! Endlich ein stiller Pfad. Das war die rechte Promenade für ihn. Ringsum weiße Kalkfelsen, die in eine Schlucht hinabstürzten; ein Kegel schob sich abschließend vor den anderen; nur dürftiges Gestrüpp klammerte sich an den ausgedörrten Boden. Hierher würde sich kein Naturschwärmer verlieren. Er klomm den steinigen Weg weiter und ließ sich auf der Höhe im Schatten einer Kalkwand nieder. Die Aussicht in das weite Thal, aus dessen silberwogenden Saatfeldern Dörfer auftauchten mit blitzenden Kreuze auf den Kirchtürmen, wo, von üppigen Obstbäumen umgeben, Frankenhausen mit seinen freundlichen Häusern und altersgeschwärzten Salzwerken lag, rang ihm ein beifälliges Nicken ab – für das hier geplante Manöver. Nur weit drüben, wo der Nebelstreif der Morgensonne zerrann, würden die Pioniere zu thun bekommen. Dort ringelte sich die Unstrut hin über ihren tückischen Grund. Einen Blick noch schenkte er dem Frankenhaus zu seinen Füßen und der Sachsenburg, die wie ein Wächter drüben über den Bergeskamm lugte, einst zum Trutz gegeneinander erbaut, sonnten sie sich jetzt friedlich auf ihren Bergen wie zwei alte Wolfshunde, denen die Zähne ausgebrochen sind. Er maß die Luftlinie zwischen beiden ab. Dann vertiefte er sich in die Vorkehrungen, die man durch Patrouillendienst gegen feindliche Ueberfälle zu treffen hat.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er, das Taschenbuch voll wichtiger Notizen, den Heimweg durch die einsame graue Schlucht antrat. Doch nein, jetzt war sie beides nicht mehr. Mitten in der dürren Einöde stand der kleine Schlafratz. Aus duftigem blauen Gekräusel tauchte der Kopf leuchtend wie eine Blüte auf, die bunte Schärpe, die im Rücken zwei große Flügelschleifen hatte, umschloß eine zierliche Taille.

Sapperlot! murmelte er leise in sich hinein, ohne die Augen abzuwenden. Dann rief er laut hinab: „Guten Morgen, Fräulein Großheim!“ Schreckhaft war sie nicht. Ihr rosiges Gesicht wandte sich unter dem großen Schirm, der an den des Kaisers von China erinnerte, fröhlich zu ihm empor. „Mit dieser Toilette im wüsten Kalkthal? Welche Opferfreudigkeit!“ fuhr er fort, von der Höhe der Hügelkette zu ihr herniedersteigend.

„Wüstes Kalkthal? Das ist der rechte Name,“ erwiderte Ilse. „Schauderhaft!“

„Man findet überall etwas Hübsches,“ entgegnete Holl, dessen Auge mit sichtlichem Wohlgefallen auf ihr ruhten. „Aber wo bleibt Fräulein Raunthal? Sie sind doch nicht allein den einsamen Weg gegangen?“

„Warum nicht? Ich thu’ immer, was ich mag,“ antwortete sie selbstherrlich.

„Wie jung sind Sie noch, daß Sie das so kühn sagen!“ erwiderte er, immer einen Finger im Notizbuch, als sollten die Aufzeichnungen sogleich fortgesetzt werden.

Ueberhebend züngelten die schillernden Fühlhörnchen des Schmetterlingshutes gegen ihn. „Hätte ich nicht so gedacht, so würde mich Frankenhausen gar nicht zu sehen bekommen haben.“ Und sie wandte sich zum Weitergehen.

„Das wäre allerdings schade gewesen.“ Zögernd, als wollte er bald wieder umkehren, schloß er sich an. „Sind Sie vielleicht ein kleiner Durchgänger?“

„Nein, diesmal nicht. Das war ich nur in der Brüsseler Pension,“ erzählte sie. „Mundhalten, bis man beinahe erstickte, in sinnlose Formen eingeschnürt von früh bis spät, falsch freundliche Knixe, wo man lieber den Rücken gedreht hätte –“

„Ja, ja, diese Meinungsäußerung lassen Sie sich nicht verkürzen, wie ich gestern erfahre habe,“ fiel er ein und hob lächelnd den Finger. Sie fällte den Schirm gegen ihn, wie um sich zu schützen, und sagte unter den Spitzen hervor: „So etwas wie diese Pension, das paßt mir nicht; da steig’ ich aus und rutsche ab.“

„Ei, ei!“ Er schüttelte den Kopf.

„O, ich steig’ auch ein,“ trumpfte sie nun erst recht auf. „Gabriele habe ich mir dabei erobert. Ich schwärmte für sie schon als kleiner Backfisch, da mich die guten Großeltern zu sich genommen hatten, die in derselben Universitätsstadt wohnen wie Gabriele.“

Holl nickte. Natürlich, auch noch von Großeltern verzogen! Und doch versenkte er sein Notizbuch mit den wichtigen Bemerkungen in die Tasche seines Jacketts und hörte ihr mit so heiterer Teilnahme zu, als zwitschere neben ihm ein Vogel sein munteres Liedchen.

„Gabriele erschien mir damals immer wie ein höheres Wesen,“ plauderte Ilse zutraulich weiter. „Ich machte Gedichte an sie und schickte sie ihr anonym zu. Einmal als ich an dem Weingeländer hinter ihrem Haus in die Höhe geklettert war, um einen Strauß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 768. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_768.jpg&oldid=- (Version vom 21.9.2023)