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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Mama würde sich sehr gefreut haben,“ stotterte ich.

Er lenkte, die Antwort unterlassend, das Gespräch ab. „Bin neugierig, ob ich noch alles so finde wie vor Jahren, die Mühle, das Schulhaus und das Schlößchen. Ich glaube, so lange ich fort bin, war ich jede Woche einmal im Traum hier, und wie deutlich erschien mir alles, wie klar stand es mir vor Augen! – Wenn Sie wüßten,“ fuhr er fort, „wie schmerzlich es mir war, daß ich nicht sofort herübereilen konnte, als der Krieg erklärt wurde! Ich war zu jung, war mitten in meinen Studien und durfte auch meinen Vater nicht verlassen, der schon sehr kränkelte. Er war geradezu lebensgefährlich erregt über meine Absicht, nach Deutschland zu gehen. So blieb ich denn in Cambridge, wo ich die Universität besuchte, und begnügte mich mit den Zeitungsberichten, die ich angesichts der Photographien unserer berühmten Helden in meinem Zimmer verschlang, und – ich muß es bekennen – unter heißen Thränen der Entsagung. Als dann die Kaiserproklamation erfolgte, war ich wie toll, und als echter Deutscher bekneipte ich mich zum erstenmal in meinem Leben sträflich. Sie sehen mich entsetzt an, Fräulein von Sternberg? ’s ist nicht schön, ich weiß es, aber die Begeisterung hatte an dieser Illumination mehr schuld denn der Wein. Am andern Tage natürlich Kopfweh – und trotzdem das beglückende Gefühl: ein deutscher Kaiser, ein einiges Reich!“

„Was studierten Sie denn?“ fragte ich, lachend über seine Schilderung.

„Rechtskunde!“

„Sie sehen gar nicht aus wie ein Jurist.“

„Ich mache auch vorläufig keinen Gebrauch davon, mein Fräulein, ich bin für gewöhnlich Müller.“

„Wie? Was?“ stotterte ich.

„Müller,“ wiederholte er, „Mehl, Weizenmehl. Ja, aber Sie müssen dabei nicht an so ein Idyll denken wie das vor uns – schauen Sie, da ragt eben das Dach und die Linde über die Höhe – Himmel, noch ganz wie einst, und das Storchnest ist auch noch da! Nein, so ein Idyll am rauschenden Bächlein mit dem klappernden Rad ist’s nicht – Dampfbetrieb ist’s bei uns und lange nüchterne Gebäude mit mächtigen Essen stehen da, und drinnen surrt und klappert es, und zwischen dem Räderwerk hantieren tausend geschäftige Menschenhände. Keine Mühlenpoesie freilich, der Müllerbursch hat keine Zeit, für die schöne Müllerin zu schmachten, dem Bach seine Liebe zu klagen und Vergißmeinnicht zu pflücken. Eins greift dort ins andere, eins schiebt das andere, bis der weiße feine Staub wohlverpackt auf den Schienen dahinrollt in die Bäckereien der Großstädte.“

„Und dabei und Sie Jurist?“

„Auf besonderen Wunsch meines verstorbenen Vaters. Ich höre jetzt sogar Vorlesungen in meiner Garnisonstadt.“

„Woher kommen Sie denn?“

„Von Halle, gnädiges Fräulein. Ein bißchen alt, der Student, nicht wahr? Aber es ging nicht anders. Halt!“ rief er plötzlich dem Postillon zu, „ich steige hier aus. Die Dame fahren Sie vor das Herrenhaus, kehren dann im Gasthof ein und lassen sich Essen und Trinken geben! Also, Fräulein von Sternberg, bereiten Sie die alte Frau vor, ich möchte trotz der Dunkelheit vorher durch das Dorf gehen, ich hätte sonst keine Ruhe, und ich will mir auch Quartier bestellen.“

„Aber wohnen Sie denn nicht im Schloß?“ fragte ich erstaunt.

„Nein!“ antwortete er kurz, „auf Wiedersehen! Ich muß erst noch die Schwelle des Hauses begrüßen, wo ich mich mit den Dorfjungen balgte und an dessen Fensterscheiben ich meine Nase platt drückte.“

Er war währenddem aus dem Schlitten gestiegen, grüßte, und ich sah, wie er einen Kranz aus der Schachtel nahm, die neben dem Postillon auf dem Bocke stand, dann ging er rasch fort, und nun wußte ich, wohin er wollte – zum Grabe seiner Mutter.


Ich stürzte nur so aus dem Schlitten, als ich vor dem Langenwaldener Hause hielt, und über den Hof ins Schloß, so daß ich beinahe Frau Hübner umgestoßen hätte, die ein großes Holzbrett voll duftiger Wecken trug.

„Mein Gott, sind die Wölfe hinter Ihnen, Fräulein von Sternberg?“ schalt sie lachend. „Sie sind lange ausgeblieben, die Base läuft vor Angst aus einer Stube in die andere.“

Ich hörte das nur noch undeutlich, denn ich wae die Treppe hinaufgerannt, als ob ich wirklich verfolgt würde. Dann stand ich still, um mein Herzklopfen zu beruhigen und des raschen Atmens Herr zu werden. Wie sollte ich sie denn nur vorbereiten? Jede diplomatische Fähigkeit ging mir ab, und ein Weihnachtsmärchen zu ersinnen, das verstand ich nicht; es erschien mir selbst ja alles so unglaublich, so wunderbar. Wäre er doch lieber gleich mitgekommen!

Und dann faßte ich mir doch ein Herz und trat ein. Die alte treue Seele saß müßig am Ofen – das Spinnrädchen durfte heute nicht angerührt werden – und hatte ganz rot geweinte Augen.

„Annelieseken,“ sagte sie vorwurfsvoll, „kommen Sie endlich? Um ein Uhr sind Sie fortgegangen, und jetzt ist’s gleich Sechs. Ich habe eine Todesangst ausgestanden.“

„Base, meinten Sie, ich sei davongelaufen?“ rief ich lachend.

„Ei, was muß man denn Ihnen nicht zutrauen?“ schalt sie. „Und da sind Kisten und Pakete gekommen, vier Stück, und ich habe auch ein kleines Bäumchen geputzt und die Kisten geöffnet, Sie brauchen’s nur auszupacken. Da drinnen steht alles, aber ehe ich die Weihnachtslichter anbrenne, müssen Sie Thee trinken.“

„Ach, Base,“ brachte ich mühsam hervor und preßte ihre Hand, daß sie vor Schmerz Gesichter zog, „ach, Base, nicht böse sein, ich bin ja nur ausgegangen, um ein Weihnachtsgeschenk für Sie zu besorgen.“

„Herrje, so ’was!“ sagte sie, „das ist doch unrecht. Haben Sie denn Geld, Fräulein Anneliese?“ setzte sie dann wie erschreckt hinzu.

„Zwanzig Pfennig, Base! Aber sehen Sie, Auslagen habe ich, Gott sei Dank, nicht zu machen brauchen für meine Christbescherung, und doch ist’s das Liebste, das Sie sich wünschen – ich kenne ja Ihre Wünsche. Bitte, keinen Kuchen jetzt, nachher, später – ich kann jetzt nicht essen. Später, beste Base! Aber nun raten Sie – ganz hoch! Ich habe nämlich etwas auf der Landstraße gefunden und das hab’ ich aufgelesen, oder vielmehr – es hat mich aufgelesen, sonst wäre ich noch nicht hier, und das bekommen Sie. Können Sie's denn noch nicht erraten?“

Die alte Frau schob die Brille zurück, die sie noch vom Gesangbuchlesen trug, und warf einen besorgten Blick auf mich, die ich Pelzmütze, Jackett und Galoschen auf einen Stuhl geworfen hatte und vor Aufregung wie ein ausgelassenes Füllen umhersprang.

„Etwas, was Sie immer für unmöglich hielten, obgleich es Ihr größter Wunsch ist, Base,“ quälte ich sie weiter, „etwas Lebendiges – so groß ist’s!“ Und ich reckte mich auf den Zehen und hielt den Arm empor.

Sie warf mir nur einen schmerzlichen vorwurfsvollen Blick zu. „Ach, Anneliese, spotten Sie doch nicht über mich!“

Ich fiel ihr um den Hals. „Gott sei dafür, liebste Base, ich spotte gewiß nicht!“

Da schob sie mich mit beiden Händen zurück und sah leichenblaß in meine Augen. „Annelieseken!“

„Base!“

Und dann tastete sie nach dem nächsten Stuhl. „Es ist ja nicht wahr! Was ich meine, meinen Sie nicht – nein, nein, ’s ist nicht wahr, das ist ja gar nicht möglich!“

„Doch!“ platzte ich los, „doch – Ihr Robert –“ Dann hielt ich inne, denn die alte Gestalt sank wie gebrochen in den Stuhl und hielt mir ihre zitternden Hände entgegen.

„Ich überleb’s nicht, wenn’s nicht wahr ist!“ schluchzte sie. „Anneliese, ach, liebes Fräulein Anneliese!“

Und nun hatte ich Mühe und Not, sie zu beruhigen, denn sie weinte und weinte, ganz still, immer dabei leise den Kopf schüttelnd. Sie war noch mitten drin, da klopfte es, und ich lief hinaus zur andern Thür, ich wollte nicht stören; ich hörte nur noch den Klang seiner Stimme: „Grüß Gott, Base! Meine alte gute – –“ Und dann hatten sie sich wohl umfaßt und das Wort erstickte in dem Kuß, den sein Mund auf ihre weinenden Augen preßte.

Ich saß in meiner Swbe, ohne mich zu rühren. Eine Lampe brannte auf der Kommode, auf dem Tisch standen die vier Kisten mit den Weihnachtsgaben, und das Tannenbäumchen der Base rauschte mit seinen Blattgoldfähnchen. Ich ahnte nicht, was da mit dem großen schmucken Soldaten in mein Leben getreten war, ich fühlte mich nur so glücklich, sein hübsches Gesicht, sein freimütiges Wesen gefielen mir so gut, und daß er herübergekommen war, um seiner Militärpflicht zu genügen, das hatte

mich als Soldatentochter geradezu begeistert. Wenn man den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_775.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2022)