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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Nr. 50.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

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Um fremde Schuld.

Roman von W. Heimburg.
     (14. Fortsetzung.)

O, die furchtbare Zeit! Ich lag ein paar Tage im Fieber; nur undeutlich war mir bewußt, daß etwas Schreckliches sich ereignet habe. Ich fühlte den Druck des Unglücks in seiner ganzen überwältigenden Schwere, wußte, daß ich nichts mehr in der Welt besaß, und hätte doch nicht sagen können, was mir geschehen. Ich wollte mich besinnen, wollte die verzerrten Gesichter abwehren, die sich über mich neigten, mich bedrohten, aber ich war wie gelähmt. Mitunter hörte ich Mamas Stimme, dann versuchte ich aus dem Bett zu springen und zu ihr zu eilen, doch ich fühlte mich festgehalten, und immer von neuem grinsten mich die Fratzen an. Zu mir kam ich erst durch ein eigenartiges tiefes Summen und Tönen, das in das offene Fenster meines Stübchens drang. Ich lag mit offenen Augen da und suchte mich zu besinnen. Ach, die Glocken wurden geläutet – wann hatte ich sie so gehört, so ernst, so feierlich? Als Papa begraben wurde – –

„Mama!“ sagte ich und sank kraftlos zurück.

Die alte Josephine, die am Fenster stand, wandte sich, und ihre noch vom Weinen geröteten Augen blickten mich erschreckt an. „Die Komtesse ist nicht zu Hause, gnä’ Fräulein – wollen Sie irgend etwas? Haben Sie Durst?“

„Nein, ich danke. Können Sie hinübersehen auf den Friedhof, Josephine?“

„Ja freilich,“ sagte sie, und zögernd setzte sie hinzu: „aber es ist nichts zu sehen, gnä’ Fräulein.“

„Doch, Josephine – Mama wird begraben.“

„Liebes gnädiges Fräulein,“ schluchzte sie, „regen Sie sich doch nur nicht auf!“ Und sie schloß rasch das Fenster, denn glockenhell tönten jetzt die Stimmen der singenden Kurrendeknaben herauf. „Wie sie so sanft ruhen.“

Ach, wie gönnte ich ihr diese Ruhe neben Papa – man würde sie doch neben Papa gebettet haben? Ich faltete die Hände und ein traumhafter Friede, eine große feierliche Stimmung überkam mich, das erlösende Gefühl, das Liebste, das man hat, gerettet zu sehen aus Schande und Pein, geborgen zu wissen vor allem Elend.

Es war so ruhig, so friedvoll hier; über der Kommode ein großer Stahlstich – Christus, auf den Meereswellen stehend, reicht dem sinkenden Jünger die Hand, eine antike Uhr in Staubgehäuse, auf deren Zifferblatte bei jedem Stundenschlag eine Figur hervortrat, vor der ich mich immer heimlich gegraut hatte und die ich erst heute verstand – der Tod mit der Sense, die er schwang, so oft es schlug. „Von allen eine ist die Deine“, stand zwischen den zierlichen Arabesken auf der Metallplatte. Der Tod hatte

Shylock. Friedrich Mitterwurzer. Narciß.
     Richard III. Buchbinder Kleister.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 841. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_841.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2022)