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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Ehrfurcht vor dem Bestehenden und der ebensotief sitzende Drang, sich durch Neuerung zu bethätigen. Der Geschmack beruht daher ebensowohl auf dem Volkstum wie auf der Persönlichkeit, auf bestimmten Ortsverhältnissen wie auf solchen der Zeit. Er äußert sich ebensosehr im Stillstand wie im Ueberhasten. Volkstracht wie Modenwerk sind gleichmäßig seine Kinder.

Goldgesticktes, von den Frauen arabischer Nomaden der Sahara getragenes Kopftuch, mit schwarzen Wollfransen, an denen große Silberringe hängen.

1. Haube der Neuvermählten bei den Araukanern in Chile, aus blauen, weißen und roten Glasperlen hergestellt und mit europäischen Fingerhüten an den Enden der Fransen. – 2. „Hoto Kamapeh“, aus Rinde und Kattun verfertigter, auf den Inseln des Indischen Oceans heimischer Kopfschmuck, dessen Rand aus radial gesteckten Cigaretten hergestellt wird; der Hut wird nicht getragen, sondern nur beim letzten Gedächtnisfeste für eine verstorbene Frau auf deren wieder ausgegrabene Gebeine gelegt. – 3. Hut aus Oalmblattstreifen auf der Sunda-Insel Timor.

So liegt denn freilich in den Kopfbedeckungen reicher Stoff für ernste Betrachtungen. Man vergleiche einmal die Hauben der Frauen aus der Normandie, aus Holland, Friesland, Norwegen und Schweden unter sich! Es ist dies eine Fortbildung jenes Kopfschmuckes, welchen die Frau der großen Hansazeit trug. Im 15. und 16. Jahrhundert wurde diese Mode geschaffen und seitdem ist sie Volksgut geblieben längs der nordischen Seeküsten. Man vergleiche daraufhin die Jüdin von Algier, in deren schleierbedecktem Dütenhut sich jene patrizische Kopfbedeckung erhalten hat. Es scheint, als hätten die Jüdinnen sich das Festkleid durch Jahrhunderte bewahrt, das ihnen einst aus den aufblühenden Handelsstädten der Niederlande und Italiens herübergebracht wurde, während sie sonst fest an den turbanartigen Kopfbedeckungen des Orients hielten. Es besteht also ohne Zweifel im Wechsel eine Dauer. Und man kann wohl sagen, daß der Wechsel, die Delikatesse, im Geschmack der Ausdruck einer kräftigen Zeit ist und daß jener Zug der Alten, am Alten in der Kleidung festzuhängen, ebensogut wie als Zeichen der Stärke des Gemeingefühls als ein solches der individuellen Schwäche betrachtet werden kann.

Junges japanisches Mädchen in Straßentoilette mit Kopftuch
aus Musselin.

Schwarzer Strohhut aus der spanischen Provinz Avila (Altkastilien), der ohne den Aufputz von Band und Blumen auch von Männern getragen wird.

Die Frauen der Nordseeküste danken es heute noch den Städterinnen unbewußt, daß diese vor drei, vier Jahrhunderten sich geschmackvoll kleideten, in jener Zeit, in der der Bauernstand reich und frei genug war, die Mode der Städter mitzumachen, sie dankten es dadurch, daß sie zu dieser Mode in Zeiten des Druckes und der Unfreiheit getreu hielten. Denn alle Volkstracht ist die Mode der Zeit, in welcher meist aus sozialen Gründen die Fortentwicklung gehemmt wurde. Es findet sich vielleicht einmal der Kulturhistoriker, der diesen Gedanken im einzelnen durchführt! – So kommt man denn doch zu der Narrheit der Mode in ein anderes Verhältnis. Sie ist die Aeußerung eines kräftigen Schönheitsgefühles, das sich bethätigen will. Sie hat bestimmte Gesetze und ist keineswegs persönliche Willkür. Willkür ist es ebensosehr, in der allgemeinen Entwicklung stehen zu bleiben. Jene alte Dame, welche nach 50 Jahren redlichen Mitkämpfens an der Ausbildung eines Zeitgeschmackes plötzlich erklärt: „Ich mache nicht mehr mit! Ich bleibe bei der Haubenform von gestern bis an mein Lebensende!“ Diese Frau hat gewiß für sich recht: sie ist alt und müde und darf sich geistige Ruhe gönnen. Sie hat aber kein Recht, über die Jüngeren zu zetern, die nicht auch am selben Tage mit ihnen auf jede Fortarbeit verzichteten. Die Bauernschaft, welche bei einer Kleidungsart der ihr vorbildlichen Städter stehen bleibt und nun hundert Jahre dasselbe Kleid trägt, ist darum nur in bedingter Weise zu loben. Jedenfalls wird der geistig freie Bauer nicht lediglich den Altertümlern zuliebe in einer Kleidung herumlaufen wollen, die ihm nicht mehr gefällt. Entwicklung wäre auch hier das rechte. Trügen wir, die Städter, eine Nationnaltracht, bildeten wir sie kräftig fort – dann würde der Bauer unserem Rat und unserem Beispiel gewiß folgen. Aber haben wir, die Städter, recht, ihn anzuklagen wenn er, durch unser Vorbild denselben Geschmack bekommt wie wir, die Städter!?

Und die Männer der Aesthetik, die Partei der Verständigen, die im Hohn auf die Thorheit der Mode sich so groß dünken! Man empfehle ihnen einmal, ein ideales Kleid zu tragen, oder man erbitte sich von ihnen einen Rat, wie man sich „ästhetisch“ kleiden solle, man sehe sie selbst einmal an, ob sie irgend etwas Vorbildliches an sich tragen. Neunundneunzig der Weisen sind genau so gekleidet wie die von ihnen für Narren erklärten, denn selbst der Unterschied zwischen einem eleganten, ja einem anständigen Cylinder und dem des „Gigerls“ ist nicht so sehr groß; und der Hut, den Großmama trägt, kann gar leicht aus derselben Fabrik stammen wie der, in welchem sich die prunksüchtige Modedame brüstet. Der Unterschied, der uns auffällt, ist kein grundsätzlicher, sondern

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_011.jpg&oldid=- (Version vom 24.5.2020)