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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Und Du mußt sie schön pflegen, mit dem Besten, was Du hast. Sie ist ja keine Schwerkranke, nur erholungsbedürftig – die schönste Luft hat sie hier und Bewegung im Freien, soviel sie nur will. Zur Stadt kann sie auch, sobald sie Verlangen danach hat – es paßt ja alles vortrefflich, ganz vortrefflich!“

Er redete sich das selber vor, um sich ernstlich davon zu überzeugen. Daß Mamsellchen kein Wort weiter sprach, beachtete er nicht. Ihr Inneres wurde von geteilten Empfindungen bewegt. Sie hatte Margot sehr lieb gehabt, war äußerst gutherzig und hatte inniges Mitgefühl mit allen Schwachen und Notleidenden, und nun gar Margots Tochter! Anderseits schwebte sie in ewiger Angst, man könnte ihrem Doktor Fallstricke legen und ihn zu einer unglücklichen Heirat zwingen. Sie liebte ihn abgöttisch, und die beste, schönste klügste Frau war ihr gerade gut genug für ihn. Aber wo diese beste, schönste und klügste finden? Mamsellchen hatte keine sehr günstige Meinung von ihrem eigenen Geschlecht. Ihres Doktors Mutter, ja, das war eine prächtige Frau gewesen, aber alles, was zum Hause Röder gehörte, stellte für sie eine Ausnahme dar. Auf ihren späteren Haushälterinnenstellen hatte sie viele Frauen beobachten können, junge und alte, schöne und häßliche, kluge und einfältige – sie schienen ihr allesamt nicht viel wert zu sein, und der Gedanke, ihr Liebling könnte in die Netze solch einer Persönlichkeit fallen, preßte ihr das Herz vor Angst zusammen. Und da er nun schon über fünfundvierzig Jahre alt geworden war, ohne geheiratet zu haben … wo lag die Notwendigkeit, daß er überhaupt heiratete? Konnten sie nicht beide, Mamsellchen und ihr Doktor, ihr Leben gemeinsam beschließen, zwei würdige Vertreter des ledigen Standes? Ehe sich das Entsetzliche zutrug, daß er eine von den gewöhnlichen Frauen bekam, wie sie zu Tausenden in der Welt umherlaufen, lieber mochte es gar keine sein! Und nun hier in „Buen Retiro“, wo sie bisher weiblicher Premierminister gewesen war und gehofft hatte, es zu bleiben, hier sollte nun eine fremde junge Dame schalten und walten? Denn, daran war kein Zweifel, ihr Herr, der so überaus höflich und liebenswürdig mit Damen war, würde sie schalten und walten lassen. Ueberdies war sie Margots Tochter! Sie konnte die Villa von oben nach unten umkehren, er würde es dulden, und sie, seine alte und treue Freundin, mußte es hinnehmen, ohne zu murren. Durfte sie ihrem Herrn Vorschriften machen, wen er einladen sollte und wie er sich zu verhalten hatte? Sie war und blieb eine Untergebene und hatte sich zu fügen!

Es zuckte ihr um die Lippen, als wenn sie weinen wollte. Aber nein, das durfte sie nicht, was sollte der Doktor davon denken? Lieber stahl sie sich leise fort – er war so ganz in seine Gedanken vertieft, er würde nichts davon merken.

Und wirklich, er merkte nichts, weder den leisen Schritt, der wegschlich, noch das vorsichtige Oeffnen und Schließen der Thür. Den Kopf in die Hand gestützt, saß er da und sann und sann. Wie seltsam sich doch im Leben alles fügte! Margots Tochter, Margots Kind! Seine ganze Jugend stand wieder vor ihm auf; er sah sich als einzigen Sohn im Vaterhause, sah seine Eltern in der hübschen altmodischen Wohnstube beisammen sitzen, sah sich in Wald und Feld umherstreifen, zu Fuß und zu Pferde, und überall war eine helle reizende Mädchengestalt dabei, die er brüderlich warm geliebt und geneckt und gescholten hatte.

Hastig schloß er ein Schubfach seines Arbeitstisches auf und nahm Margots Photographie heraus. So war sie als junges Mädchen gewesen, er entsann sich jedes Zuges, sogar des Kleides, das sie auf dem Bilde trug! Und hier, das war wieder Margot, in einem kostbaren, leichten Gewande, tief in einen Schaukelstuhl zurückgelehnt, einen riesigen, langhaarigen Hund zu ihren Füßen. Das Bild hatte sie ihm aus Batavia geschickt. Eine schöne Frau, aber im Ausdruck verändert! Ob Gabriele ihr jetzt wohl ähnlich sah? Auch von ihr besaß er eine Photographie, sie saß auf dem Schoß einer häßlichen braunen Mulattin, ein zierliches lachendes Kindchen von zwei bis drei Jahren. Er mußte wehmütig lächeln, als er daran dachte, daß das kleine Geschöpf von damals jetzt schon Witwe war. Ja, ja, er war sehr alt geworden. Nie kam ihm das so zum Bewußtsein, als wenn er in alten Papieren und Photographien kramte. Hier seine Eltern, Max Herzog, sein Jugendfreund – wie hatte der Margot geliebt und betrauert! Und hier, dies feine dunkle Gesichtchen mit den südländisch funkelnden klugen – Zigeuneraugen hatte er sie immer genannt – das war Asta, die er einst so heißgeliebt! Vorüber, vorüber!

Ja so, er sollte schreiben, sollte Margots Tochter antworten! Hastig holte er seine Briefmappe hervor. Aber wie sie anreden? „Gnädige Frau“ – das klang steif und erzwungen, „Liebe Gabriele“ – das war wieder zu vertraulich. Endlich entschloß er sich, sie „Meine liebe junge Freundin“ zu nennen, und in kurzen und herzlichen Worten sprach er ihr seine Freude aus, daß sie sich seiner erinnert habe, gedachte Margots mit brüderlicher Wärme und betonte, daß ihre Tochter jederzeit über alles verfügen und alles mit ihm teilen könne, was sein sei.

Der Brief wurde rasch geschlossen und Ewert herbeigeklingelt, um ihn zu befördern. Dann nahm der Doktor seine wissenschaftlichen Arbeiten vor, schrieb ein paar Zeilen und war unzufrieden damit, schlug einen spannenden modernen Roman auf und fing an zu lesen, fand, daß das Wetter viel zu schön sei, um im Zimmer zu sitzen, steckte sich eine Cigarette an und ging in den Garten hinaus.

Wie friedlich und freundlich seine Villa dalag! Er hatte sich glücklich in ihrem Besitz gefühlt, wie glücklich, das sagte er sich jetzt mit zehnfachem Bewußtsein, da es nun für eine Zeit lang vorbei war mit seiner ungebundenen Lebensweise. Denn die junge Frau würde seine Gesellschaft, seine Unterhaltung beanspruchen, sie würde auch oft zur Stadt wollen, und er mußte sie begleiten. Er seufzte und schalt sich selbst dafür aus, daß er seufzte. Er that es doch gern für Margots Tochter! Oder nicht? Er hätte sie ja dann in irgend ein Bad, einen hübschen Luftkurort schicken können, aber wie fremd und selbstsüchtig hätte das ausgesehen, so, als wollte er die Sorge um sie los sein. Gewiß, er that es gern, nur jetzt, da er sich eben seines neuen Besitzes, seines Stilllebens recht erfreuen wollte … pfui, welch’ ein Egoist er war! Ein richtiger alter Junggesell, und er hatte sich immer vorgenommen, keiner zu werden.

Der süße Narzissenduft stieg von den Beeten zu ihm auf, auch die Blume an seiner Brust hauchte einen lieblichen Odem aus. Er konnte später nie mehr eine Narzisse sehen oder ihren Duft einatmen, ohne an diesen Abend, ohne an den Namen Gabriele erinnert zu werden.




4.

Die nächsten Tage brachten Regen und Sturm, die Blüten wurden von den Bäumen geworfen, die Blumenbeete zerwühlt, die Büsche unbarmherzig gezaust. „Buen Retiro“ stand trübselig da im grauen Zwielicht, und sein Eigentümer bedauerte, daß es sich nicht besser ausnahm, und vergrub sich hinter Büchern und Zeitschriften. Mamsellchen richtete die beiden oberen Zimmer hübsch und zierlich ein, es fehlte noch dies und jenes dazu, was aus der Stadt verschrieben werden mußte, und der Doktor gab zwei schöne Kupferstiche aus seinem Arbeitszimmer her, um der leidenden jungen Frau doch eine Augenweide zu gönnen.

Mamsellchen war stiller als sonst und wenig zum Scherzen aufgelegt, ihrem Herrn aber fiel das weiter nicht auf, denn ihm ging es ähnlich. Die neue Hausgenossin beschäftigte die Gedanken beider. Es vergingen aber viele Tage, ohne daß sie etwas von sich hören ließ. An einem stillen Abend endlich – es war gerade der letzte Mai – schob Mamsellchen mit einem bedeutungsvollen Blick wiederum ein elfenbeinfarbenes goldgerändertes Briefchen auf den Arbeitstisch ihres Herrn und blieb in wartender Haltung daneben stehen.

Es waren nur wenige Zeilen. Die Schreiberin sprach in einfachen Worten, ohne jede Ueberschwenglichkeit, ihren Dank aus und kündigte ihre Ankunft auf übernächsten Abend an.

„Das ist ja sehr schön, sehr schön!“ betonte Röder so nachdrücklich, als habe ihm jemand lebhaft widersprochen. „Hoffentlich bekommen wir dann endlich gutes Wetter. Den Weinvorrat habe ich nachgesehen und in Ordnung gefunden – es ist guter alter Bordeaux vorhanden, auch Sherry und ein hübscher leichter Rheinwein, das genügt wohl. Sogar ein paar Flaschen Sekt sind noch unten, ich kann mir aber nicht recht denken, daß Frau Gabriele danach dürsten wird. Die Speisekammer ist Deine Sache, liebe Alte – Du weißt, ich habe Dir alle Vollmacht gegeben; hast Du denn etwas Vernünftiges im Hause?“

Mamsellchen sah beleidigt aus. „Wenn Sie sich in die Vorratsstube bemühen und all die Konserven, die Marmeladen und Gelees ansehen wollen, soll’s mir lieb sein. Es sieht aus da drin, als ob wir ’n ganzes Regiment Einquartierung erwarteten, aber Sie haben es ja so gewollt!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_023.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)