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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Um eine Kleinigkeit.

Novelle von Jassy Torrund.

     (Schluß.)

Doktor Böhmer setzte sich nach diesen ersten Vorkehrungen auf den Rand des Bettes und begann, den Körper des Kranken zu reiben, mit breiten, langsamen Strichen das stockende Blut dem Herzen zuzutreiben.

Rieke begriff sofort, daß hier etwas Schlimmes passiert sei, sie verschob ihr Verhör mit Lisbeth nebst dazugehöriger Strafrede, schickte sie in die Apotheke, ohne der Bestürzten Zeit zu lassen auch nur ein einziges Wort zu äußern; sie selber lief in die Küche, so schnell ihre alten Füße sie trugen. Als Lisbeth nach einer Viertelstunde zurückkehrte, geschah es, zu Riekes grenzenlosem Aerger, in Begleitung des Fräuleins von Hagen. „Die hat uns gerad’ noch gefehlt!“ brummte sie und schleuderte dem jüngeren Mädchen einen wütenden Blick zu. Lisbeth zuckte die Achseln. Auf ihrem Weg zur Apotheke hatte sie die Dame getroffen, und als Aurelie sie anredete, hatte sie die gute Gelegenheit wahrgenommen, um ihrem gepreßten Herzen endlich Luft zu machen. Durch geschicktes Ausfragen hatte Aurelie von dem harmlosen schwatzlustigen Ding alles herausbekommen, was sie wissen wollte, daß der Herr so krank, und die gnädige Frau mit der Droschke fortgefahren sei. Das letzte sei noch gewesen, daß die gnädige Frau dem Herrn Medizin gegeben, viele, viele Tropfen – und der Herr hätte „so sonderbar“ ausgesehen und hätte die gnädige Frau „Franziska“ genannt. Und alles sei so kurios gewesen wie noch nie. Daß so was aber auch immer gerade passieren müsse, wenn Rieke fort sei, und daß sie, Lisbeth, dann dafür die Schuld bekäme. Und dabei hätte die gnädige Frau selber heute früh Rieke auf den Markt geschickt, und nun sei der Doktor Böhmer da und mache ein Hallo – nicht zum Aushalten!

Fräulein von Hagen wollte direkt ins Krankenzimmer dringen, allein Rieke vertrat ihr energisch den Weg. Kein Mensch dürfe hinein, erklärte sie aus eigener Machtvollkommenheit, und wenn das gnädige Fräulein den Doktor sprechen wolle, so möchte sie, bitte, vorn im Wohnzimmer warten. So komplimentierte sie Aurelie ohne viel Umstände ins Wohnzimmer, nahm die Medizin und ging zu Doktor Böhmer hinein. Der hatte dem Patienten Löffel auf Löffel von dem starken schwarzen Kaffee eingeflößt, hatte dazwischen emsig das Reiben fortgesetzt und blickte jetzt mit einer gewissen Genugthuung auf die Brust des Kranken, die sich in schwachen Atemzügen hob und senkte.

„Herrgott, der Wagen!“ erinnerte er sich plötzlich. „Rieke, geben Sie dem Kutscher einstweilen einen Bittern, daß der Kerl nicht die Geduld verliert. Er soll eine Viertelstunde lang auf- und abfahren – dann, denke ich, sind wir hier über’n Berg.“ Während des Sprechens flößte er dem Kranken die Medizin ein und erlebte bald darauf, was er gehofft und erwartet, ein gehöriges, den ganzen Körper erschütterndes Erbrechen.

Später, als Ernst Wodrich dann wieder still und aufs äußerste ermattet in seinen Kissen lag, redete der alte Herr auf ihn ein – nicht, wie zu einem Kranken, sondern wie zu einem Gesunden. Galt es doch jetzt, den Patienten um jeden Preis wach zu erhalten. Er sprach über Politik, über die neue städtische Steuer, über das entsetzliche Unglück auf der „Brandenburg“ – aber das alles rauschte unverstanden an dem betäubten Gehirn des Kranken vorüber.

Doktor Böhmer sah, daß er tiefer greifen müsse. „Wo ist Ihre Frau, Wodrich?“ fragte er langsam und eindringlich.

Ernst schlug die Augen auf und sah ihn an – und der erfahrene Menschenkenner ward sich bewußt, daß für diesmal die Gefahr überstanden sei, daß der Geist, der bewußtlos in weite Fernen entrückt gewesen, sich anschickte, in sein Haus zurückzukehren; langsam dämmerte in diesen leerblickenden tiefliegenden Augen ein schwacher Strahl des Verständnisses herauf, langsam färbten sich die fahlen Wangen mit einem Hauch von Lebensröte.

„Wo ist Franziska?“ fragte der Doktor nochmals und griff nach des Kranken Hand.

Ernsts Lippen bewegten sich, mit Anstrengung brachte er das eine Wort hervor. „Fort“ – und machte dazu eine schwache Handbewegung nach der Thür.

Der Arzt drehte sich um, Rieke, die ihm fortwährend hilfreiche Hand geleistet, war noch zugegen; sie stand und starrte auf ihren Herrn, und ihr langsam denkender Verstand mühte sich, die geschehenen Dinge zusammenzureimen.

„Kommen Sie hierher, Rieke!“ gebot der Doktor, seinen Patienten immer fest im Auge behaltend, „und sprechen Sie laut und deutlich, damit der Herr Sie verstehen kann. Seit wann ist die gnädige Frau fort?“

„Seit zehn Uhr,“ berichtete Rieke, die sich inzwischen durch Lisbeth genau orientiert hatte.

„Wo ist sie hingefahren?“

„Lisbeth meint, zur Frau Rätin Lorenz. Die gnädige Frau hat dem Kutscher noch eine andere Adresse hinterher gesagt, das hat Lisbeth aber nicht mehr verstanden.“

„So, hm – noch eine andere Adresse,“ wiederholte der alte Herr und beobachtete den Kranken mit scharfem Blick.

„Wie konnten Sie leiden, daß Ihre Frau bei dem bösen Märzwinde ausging?“ sagte er dann zu Ernst. „Sie hätten sie unbedingt zurückhalten müssen!“

Ernst wandte den Blick ab. „Sie hätte sich schwerlich zurückhalten lassen,“ murmelte er, unwillkürlich dieselben Worte brauchend, die Aurelie von Hagen einst zu ihm gesprochen.

„So. – Was denken Sie eigentlich wohl von Ihrer Frau, Wodrich?“ fragte Doktor Böhmer heftig, die Gegenwart der alten Köchin außer acht lassend.

Ernst antwortete nicht – aber ein bitteres Lächeln flog über sein Gesicht.

„Soweit sind wir also schon wieder,“ nickte der Arzt befriedigt, er beugte sich über den Kranken und dämpfte seine Stimme. „Wer hat Ihnen die verdammten Tropfen gegeben, Wodrich?“

„Ich … ich habe sie selbst genommen,“ stammelte Ernst, unter den forschenden Blicken des alten Freundes die Augen niederschlagend.

„So, so, selbst genommen … wie kommt denn die Flasche dort auf den Tisch?“

Da Ernst beharrlich schwieg, sagte der Arzt ruhig: „Franziska hat sie Ihnen gegeben, das weiß ich durchs Mädchen. Ich möchte nur wissen, wie Sie das arme Weib dazu gebracht haben, Wodrich?“

„Ich habe sie darum gebeten.“

„Wieviel Tropfen?“

„Fünfzig.“

„Zum Kuckuck, Herr, sind Sie denn ganz des Teufels?“ rief Doktor Böhmer aufspringend.

„Und sie hat sie Ihnen gegeben?“

„Sie wußte nicht, was es war. Franziska kennt kein Morphium – sie hat dies Fläschchen bisher noch nie in Händen gehabt,“ beteuerte Ernst.

„So – na, ich will’s ja glauben – also waren Sie der Anstifter?“ fragte der alte Herr und blickte seinen Patienten aus den großen runden Brillengläsern zornig an.

„Ich ganz allein.“

„Na, Sie müssen’s ja verantworten, Wodrich! – Ich weiß nicht, was es zwischen Euch gegeben hat, dränge mich auch nicht hinein – aber als alter Freund will ich Euch den guten Rat geben: Macht nur hübsch Frieden miteinander – Ihr geht sonst alle beide dran zu Grunde,“ sagte der Doktor mit großem Ernst. Dann reichte er Wodrich die Hand. „Ich muß jetzt gehen, habe meinen Kutscher ohnehin schon länger warten lassen, als ich’s verantworten kann.“

Er winkte Rieke, mit hinauszukommen.

„Was ist das mit Ihrer Frau, Rieke? Wohin ist sie? Sie muß unbedingt wieder hergeschafft werden, und das so schnell wie möglich! Schicken Sie die andere Dirn’ mit einer Droschke zu der Rätin Lorenz und lassen Sie die Gnädige holen! Aber die kleine Person soll reinen Mund halten und ihre Frau nicht durch allerhand Schnickschnack aufregen. Sie aber bleiben beim Herrn, setzen sich ans Bett und reden fortwährend mit ihm, er darf nicht wieder einschlafen. Können Sie das?“

Rieke sah den Doktor in treuherziger Verlegenheit an. „Je – was soll ich denn doch bloß reden? Wenn’s noch die Frau wäre – aber der Herr …? So Herren verstehen ja nix!“ meinte sie bedenklich.

„Ganz egal, Rieke, reden müssen Sie! Er darf uns nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_063.jpg&oldid=- (Version vom 17.7.2023)