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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

dem fraglichen Auftritt beigewohnt; als deren Vernehmung beginnen sollte, trat die eine, durch des Richters ernste Mahnung eingeschüchtert, noch vor dem Schwur zurück. Die zweite legte den Zeugeneid ab, verwickelte sich dann aber bei den Kreuz- und Querfragen des Verhörs in allerlei Widersprüche und gestand endlich weinend: genau gehört hätte sie überhaupt nichts, da sie viel zu weit entfernt gestanden. Die Rätin Lorenz legte klar und sicher ihr Zeugnis ab, das fast wörtlich mit Franziskas eigener Aussage übereinstimmte; dann hatten die beiden Rechtsanwälte das Wort. Der gegnerische Anwalt versuchte mit großer Redegewandtheit, seinen Klienten herauszureißen – aber es gelang ihm nicht. Doktor Sonnenthal faßte alle seine Klientin völlig entlastenden Thatsachen in kurzer scharfdurchdachter Rede zusammen – dann zog sich der Gerichtshof zurück und nach kurzer Beratung verkündete der Richter das Urteil: die Angeklagte ward von jeglicher Schuld freigesprochen – der Kläger aber wurde zur Tragung sämtlicher Kosten verurteilt.

Franzel hatte die ganze Zeit, dem Rat ihres Rechtsanwalts folgend, neben der so grenzenlos gefürchteten Anklagebank gestanden; je weiter die Verhandlung vorschritt, desto mehr schwand die lähmende Angst, die seit Wochen auf ihr gelegen. Sie hörte die ruhige Aussage der Rätin, die kurze überzeugende Rede ihres Verteidigers und sagte sich mit stillem Dank, daß es selbst in dieser schweren Stunde noch Freunde gäbe, die treu und unentwegt ihr zur Seite stünden. – Dann war alles überstanden. Doktor Sonnenthal ließ es sich nicht nehmen, die junge Frau an den Wagen zu geleiten, und wie er sie ansah, mit diesem Ausdruck stiller Seligkeit in den verweinten Augen, in dem blassen vergrämten rührenden Kindergesicht – da ward ihm doch, trotz aller Schneidigkeit, recht wunderlich ums Herz. „Nun fährt sie heim – beneidenswerter Kerl, der Wodrich!“ murmelte er zwischen den Zähnen.

Ein letzter dankender Händedruck und die Droschke rollte fort. So kam Franziska heim – nicht ganz so glücklich, so frei, so erlöst, wie ihre Freunde glaubten. Das Schwerste kam ja noch – jetzt mußte Ernst alles wissen – und jählings fiel es ihr auf die Seele, wie krank, wie verstört er diesen Morgen gewesen.

Aber Geduld! In einer Viertelstunde wird er alles wissen. Dann wird alles gut sein und sie wird ausruhen dürfen von all dem bangen schweren Leid – ausruhen in seinen Armen!

Als Franzel die Hand auf die Thürklinke von Ernsts Zimmer legte, stand sie sekundenlang still, um sich zu sammeln, ihrer heftigen Erregung Herr zu werden, ehe sie zu ihm hineinging. Da ward die Thür von innen geöffnet – Aurelie stand auf der Schwelle.

„Du hier?“ stammelte die junge Frau erschreckt und staunte Fräulein von Hagen mit großen Augen an. Rieke, die ihr draußen die Thür geöffnet, hatte absichtlich kein Wort von Ernsts plötzlicher Erkrankung, noch von Fräulein von Hagens Anwesenheit gesagt.

Aurelie zog die Thür hinter sich zu, Franzel somit den Eintritt und sogar jeden Einblick versperrend. „Ja, ich bin hier – an dem Platze, den Du verlassen,“ sagte sie sodann mit kalter Ruhe und faßte nach Franziskas Hand, um die junge Frau fortzuführen. Rieke stand mißtrauisch beobachtend im Hintergrund, jetzt trat sie vor. „Die gnädige Frau soll ins Bett, Fräulein – der Doktor hat’s gesagt,“ gab sie energisch ihre Meinung kund.

„Ich werde sie schon zu Bett bringen,“ erwiderte Fräulein von Hagen abweisend.

„Laßt mich zu meinem Mann!“ rief Franziska dazwischen, von bangem Ahnen erfaßt, und strebte, ihre Hand freizumachen.

„Ernst will Dich gar nicht sehen!“ zischelte Aurelie nahe an Franzels Ohr, während sie die junge Frau gewaltsam nach den vorderen Zimmern drängte. Mit einem Ruck riß die Gequälte ihre Hand los, stolz und aufrecht stand die zarte kleine Frau vor ihrer Feindin und maß sie mit flammendem Blick. „Das ist Dein Werk!“

Fräulein von Hagen zuckte gleichmütig die Schultern. „Wie Du es nehmen willst. Aber bitte, komm’ ins Zimmer, es ist nicht nötig, daß Deine Dienstboten unserer Unterredung beiwohnen.“

„Ich will zu Ernst!“ rief Franzel mit aufwallendem Trotz.

„Und ich sage Dir, er will Dich nicht sehen,“ wiederholte Aurelie höhnisch.

Da fügte sich die junge Frau – stolz erhobenen Hauptes schritt sie ihrer Feindin voran in das stille trauliche Wohnzimmer, wo die Hyazinthen dufteten.

„Was willst Du von mir, und was ist hier vorgegangen?“ fragte sie dann kurz.

Aurelie maß sie mit einem spöttischen Blick. „Du lieber Himmel – nur nicht so hochmütig, Prinzeß!“ sagte sie in beißendem Ton. „Wenn man vom Rendezvous mit seinem ‚Freunde‘ kommt, wenn man seinen Gatten beinahe umgebracht hat …“

„Was?“ schrie Franziska auf, die bei diesen Worten völlig ihre Fassung verlor. „Was ist mit Ernst? O Gott – die Tropfen …?“

„Morphium“, schaltete Aurelie ein.

„Morphium? – und ich gab sie ihm …“

„Ja – Du gabst sie ihm,“ wiederholte die grausame Stimme.

Franzel schlug sich verzweifelnd vor die Stirn und wollte hinausstürmen; aber wieder kam Aurelie ihr zuvor. Geschmeidig wie eine Katze, war sie mit einem Sprunge an der Thür, drehte den Schlüssel herum und zog ihn ab. „Keinen Skandal!“ sagte sie hart und riß Franziska von der Thür zurück. „Bleib’ nur, bleib’! Er lebt ja – aber er will nichts mehr von Dir wissen. Diese Stunde ist mein, hörst Du? – und ich will Dir endlich einmal alles sagen, was ich auf dem Herzen habe.“ Sie führte Franziska, die jetzt nur schwach widerstrebte, in den Hintergrund des Zimmers und drückte sie in einen Sessel nieder; sie selbst blieb in ihrer ganzen stattlichen Größe vor ihr stehen.

„Ich wollte nur sagen,“ fuhr sie kaltblütig fort, „nachdem man das alles gethan und dabei ertappt worden ist, hat man wahrlich nicht nötig, die gekränkte Unschuld zu spielen. – Also Du warst doch richtig zum Rendezvous mit Doktor Sonnenthal?“

„Wo ich war, geht Dich gar nichts an,“ rief Franziska, deren Gemütsverfassung ein beständiger Kampf zwischen zornigem Trotz und hilflosem Weinen war. „Ich will jetzt wissen, was mit Ernst ist! Ist er kränker geworden?“

„Dein Mittel hatte gut gewirkt – schade, daß Doktor Böhmer dazwischen kam,“ sagte Fräulein von Hagen langsam, der es eine wahnsinnige Freude bereitete, ihr Opfer zu quälen; dabei mußte sie immer wieder die Aufspringende zurückhalten. „Uebrigens weiß er jetzt alles.“

„Alles?“ wiederholte Franzel in Todesangst; doch dann gewannen Trotz und Stolz, gewann die Macht des guten Gewissens die Oberhand über Angst und Schwäche des jungen Weibes. „Gut – wenn er alles weiß, dann will ich zu ihm – dann muß er mir ja verzeihen!“ rief sie.

„Hier bleibst Du!“ zischte Aurelie, ihrer selbst nicht mehr mächtig. „Wisse, Ernst verzeiht Dir nie – aber Du sollst hören, was ich Dir zu sagen habe.

Sieh’, ich war ein armes alleinstehendes Mädchen und ich fand eine Zuflucht, fand ein Heim in Ernsts Hause. Wir lebten so froh und in Frieden, ich sorgte für ihn und ich liebte ihn – nein, ich betete ihn an. Er brauchte mich, hörst Du? – ich war ihm nötig zu seinem häuslichen Glücke und eines Tages würde er es erkannt und mich zu seinem Weibe gemacht haben. Bei Gott! ich wäre ihm ein gutes demütiges Weib geworden – eine Gefährtin, ein treuer Kamerad – nicht solch ein armseliges zerbrechliches Spielzeug wie Du! – Da kamst Du –“ Mit sprühenden Augen und erhobenen Händen, wie ein Dämon der Rache, stand das alternde Mädchen vor dem jungen Weibe; selbst in diesem Augenblick leidenschaftlichster Erregung sah man noch die Spuren einstiger Schönheit auf dem verblühten Antlitz – ja es war, als ob in all dem Schmerz und Zorn ein Schimmer längstvergangener Jugend ihre Züge verschönte. Schweigend, in sich zusammengesunken, das Gesicht in den Händen vergraben, saß Franziska da; sie wehrte sich nicht mehr – eine völlige Nervenabspannung war eingetreten, fast unverstanden rauschten die haßerfüllten wilden Worte an ihrem Ohr vorüber.

„Da kamst Du und stahlst mir sein Herz, sein treues, festes, stolzes, ein Herz, das Du gar nicht begreifst und nie begreifen wirst, Du kindisches Geschöpf! Ich mußte gehen, und Du wurdest die Herrin seines Hauses, und Ihr habt mich an Euern Tisch geladen, damit ich mich vor Qual und Sehnsucht verzehren sollte beim Anblick Eures Glückes. Glück – als ob Du diesem Manne das Glück geben könntest, wonach sein Herz verlangt! – Mein Glück und das seine hast Du gestohlen, nun geh’ hin und sieh zu, was Dir geblieben!“ –

Sie trat zurück und gab Franziska frei, und ohne sich nach ihr umzusehen, schritt sie zur Thür; aber ehe sie noch aufgeschlossen, ward von draußen stark geklopft und die Thür zu öffnen versucht. Aurelie schloß auf – Doktor Böhmer stand ihr gegenüber.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_066.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)