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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Nach der Leipziger Schlacht ging der Marsch westwärts über Weißenfels und Gotha und später mit Bülow nach den Niederlanden. Als sich im Frühjahr 1814 die Bülowsche mit der Blücherschen Armee vereinigt hatte, griff Napoleon beide bei Laon an, wo er am 9. und 10. März geschlagen wurde. Auch aus dieser Schlacht weiß Vater Schmidt zu erzählen und daß sie seinen Major, der nicht recht seine Schuldigkeit gethan, das Kommando gekostet habe. Die letzten Ereignisse aus dem militärischen Leben des Jahres 1814 waren für unsern wackeren Pommern die Belagerungen von Maubeuge und Philippeville. Dann zog August Schmidt wieder heim zu dem buchenumrauschten Strande der Ostsee.

Aber die Rückkehr Napoleons von Elba, und der neu entbrannte Völkerstreit riefen ihn nochmals unter die Waffen. Damals pflegte der alte Blücher, von dem Vater Schmidt ganz besonders viel zu erzählen weiß, seinen Pommern zu sagen: „Meine pommerschen Jungen werden mich nicht verlassen. Ihr sollt noch Französisch lernen.“ Das 1. pommersche Infanterieregiment gehörte in dem Feldzuge von 1815, zur Brigade Sydow und stand wiederum bei dem Korps von Bülow. Der Eindruck, welchen der Verlust der Schlacht bei Ligny und der Unfall Blüchers, dessen Pferd zusammenbrach, auf die preußische Armee machten, die Besorgnisse, welche sich an beide Begebnisse knüpften, stehen dem alten Schmidt noch ebenso deutlich vor Augen wie der Marsch der Armee auf den grundlosen Wegen nach Waterloo. Hier traf Bülows Korps gegen fünf Uhr des Nachmittags ein und damit kam unser braver Schmidt in das Feuer der letzten napoleonischen Feldschlacht.

Das alles hat er mir selber erzählt, als ich ihm bei Gelegenheit der zu Anfang genannten Reise einen Besuch abstattete. Unvergeßlich wird mir die Erinnerung an diese Stunde sein. Als ich in die freundliche Wohnstube trat, saß der alte Herr gerade am Fenster und rauchte seine lange Pfeife Er ist vollständig geistig frisch und begriff den Zweck meiner ihm ganz unerwarteten Anwesenheit ohne weiteres. Nachdem er mich auf das Sofa genötigt, begann er, von seinen Feldzügen zu erzählen, vollständig zusammenhängend und ohne eine Zwischenfrage unbeantwortet zu lassen. Am folgenden Tage erneuerte ich meinen Besuch, und, eben waren wir wieder auf dem blutigen Felde von Dennewitz angelangt, als Vater Schmidt aufstand und mich bat, ihn auf einen Augenblick zu entschuldigen. Bald darauf kam er wieder herein, in der Hand ein Cigarrenkistchen haltend, das er mir präsentierte. Diese liebenswürdige Aufmerksamkeit des fast Hundertjährigen rührte mich tief, und als er es sich nicht nehmen ließ, seinem Gaste auch das Streichholz anzuzünden, da konnte ich nicht umhin, einen Blick auf die Hand des Greises zu werfen, die vor nunmehr achtzig Jahren bei Bautzen und Großbeeten, bei Leipzig und Waterloo die Muskete, geführt hatte!

Wir plauderten dann noch einiges, und der alte Herr meinte: Wenn er so am Fenster säße wie heute morgen, so ließe er die Tage der Vergangenheit vor seinem Auge vorübergleiten, Scene für Scene, „und dann,“ fügte er mit einem eigenartigen Lächeln hinzu, „kommt mir das alles wie ein Traum vor“ Ich fragte ihn, oh er noch lesen könne. „Ach nein,“ entgegnete der Greis wehmütig, „ich kann nicht einmal Ihr Gesicht erkennen. Nur, die Umrisse einer Gestalt sehe ich vor mir.“

Das ist Vater Schmidts einziges Ungemach. Sonst lebt er in seinem Wolgast, das er seit achtzig Jahren bewohnt und wo er als Goldschmied manchem jungen Paare die Ringlein geschmiedet, in behaglichen Verhältnissen, hochgeehrt von seinen Mitbürgern. Er befindet sich in der Pflege seiner Tochter, steht gegen neun Uhr des Morgens auf, speist mit gutem Appetit und ist noch durchaus imstande, den Bestrebungen und Bewegungen der Gegenwart zu folgen, wie er denn auch gelegentlich die Ereignisse von 1866 und 1870 in den Kreis seiner Betrachtungen zieht. Meine Hoffnung, ihm noch zur Vollendung seines hundertsten Jahres meinen Glückwunsch darbringen zu können, ist in Erfüllung gegangen.

Schon das letzte Weihnachtsfest hatte übrigens den wackeren alten Herrn mit einem ihn ehrenden Sympathiebeweis aus Patriotenkreisen überrascht. Herr Dr. Hans Natge in Tempelhof-Berlin, der Herausgeber der Kriegerbundszeitung „Parole“, hatte im vorigen Jahre, im Verein mit einigen andern Herren, den schönen Gedanken zur Ausführung gebracht, eine Sammlung zu veranstalten, aus deren Erträgen den letzten noch lebenden Veteranen jener Zeit eine Weihnachtsgabe unter den Christbaum gelegt werden sollte. Der Gedanke wurde allseitig mit Freude begrüßt, und die hübsche Summe von beinahe sechstausend Mark floß zusammen. Aber ein wehmütiges Resultat ergab die Zählung der noch lebenden Kämpfer von 1813/15: Vater Schmidt hat nur noch vier Kameraden, welche die Einberufungsordre zum letzten Appell noch nicht empfangen haben. So wurde denn beschlossen, jedem der alten Herren eine Ehrengabe von fünfhundert Mark zu überreichen und den Rest an bedürftige Witwen ehemaliger Veteranen aus der Zeit der Befreiungskriege zu verteilen.

Meine Leser werden nun begierig sein, auch von den noch weiter am Leben befindlichen Kameraden unseres wackeren Vater Schmidt einiges Nähere zu hören, und ich will es versuchen, nach den mir vorliegenden Nachrichten eine Skizze der zum teil recht merkwürdigen Lebensläufe dieser letzten Zeugen einer glorreichen Epoche deutscher Geschichte zu entwerfen.

Der älteste von ihnen – das hundertjährige Geburtstagskind habe ich, wie billig, außer der Reihe behandelt – ist der Lieutenant a. D. von Baehr. Weit, weit im Osten wohnt er, in dem Ackerstädtchen Ragnit, wo der russische Njemen noch nicht lange die Preußische Grenze überschritten und nun den deutschen Namen, Memel angenommen hat. Am 6. März 1793 hat er in seinem jetzigen Wohnorte das Licht der Welt erblickt. Die Familie heißt eigentlich Neumann, und unser alter Krieger führt die Vornamen Johann Leopold. Als vierzehnjähriger Knabe sah er, in der für Preußen so schweren Zeit, bei dem unfern gelegenen Tilsit das glänzende Feldlager Napoleons, der mit Kaiser Alexander auf einem Floße im Memelflusse zusammentraf. Auch ihn selber hat er gesehen, der damals nach Ehlau und Friedland auf der Höhe seiner Macht und seines Ruhmes stand. Der junge Neumann trat in das Graudenzer Pionierbataillon und war im Jahre 1812, als die ungeheuren Massen der „großen Armee“ in seiner Heimatprovinz die Weichsel überschritten, bei dem Bau des Brückenkopfes Dirschau beschäftigt. Die Neumanns waren Leute, die das Herz auf dem rechten Flecke hatten und die Pflichten der Menschlichkeit auch dem Feinde gegenüber nicht vergaßen. Als um die Neujahrszeit von 1813 die unglücklichen Soldaten des großen Heeres mit zerlumpten Uniformen und erfrorenen Händen und Füßen durch die ostpreußischen Städte schlichen, da hat der Vater unseres Veteranen gar viele dieser Elenden in sein Haus aufgenommen und ihnen warmes Essen und schützende Kleidung gegeben. Ehre dem Andenken eines solchen Mannes! Noch heute erinnert sich der hundertjährige Sohn, wie man auf dem Markte des Städtchens Ragnit große Feuer entzündet und wie er gesehen, daß mancher der Erstarrten, der zu gierig nach der Wärme verlangt, tot in die Flammen gefallen sei. Diese Mitteilungen stammen aus der Feder von Fräulein Clara von Baehr, die mir in zuvorkommender Weise über das merkwürdige Leben ihres Vaters berichtet hat. Der junge Neumann nahm nun an den Feldzügen der folgenden Jahre als Pionierunteroffizier teil, und die Art seiner Waffe brachte es mit sich, daß er weniger in der offenen Feldschlacht kämpfte, desto mehr aber an den beschwerlichen Arbeiten der Befestigungs- und Brückenbauten mitgewirkt hat. Das spätere Leben des herrlich veranlagten und durch eigene Kraft emporgekommenen Mannes war reich an schönen, ja, geradezu glänzenden Erfolgen. Als Ingenieurgeograph und Plankammerinspektor mit Offiziersrang nach Berlin versetzt, vermählte er sich im Jahre 1819 mit einer Gräfin zu Solms-Tecklenburg und wurde nach dem frühzeitigen Hinscheiden derselben von deren Mutter adoptiert und unter dem Namen von Baehr in den erblichen Adelsstand erhoben. Seine tüchtige geographische und naturwissenschaftliche Bildung und seine hervorragenden kartographischen Arbeiten brachten ihn in bedeutende Stellungen und vermittelten seinen Verkehr mit hervorragenden Männern der Wissenschaft, unter denen selbst der Name eines Alexander von Humboldt genannt werden kann. Seit 1854 pensioniert, genießt er eine noch immer nützlich verwandte Mußezeit in seiner kleinen Heimatstadt. Ein glücklicher Vater, besitzt er, nach dem Tode seines einzigen Sohnes, eines Kämpfers von 1866 und 1870, noch reich beanlagte Töchter, von denen die eine, vor nunmehr zwölf Jahren, die ereignisvolle Lebensgeschichte des alten Vaters aufzeichnete, während die Schwester das leider nur im Manuskript vorhandene Werkchen mit hübschen Skizzen begleitet hat.

In eine andere Landschaft und andere Verhältnisse versetzt uns der Name des dritten Veteranen Johann Christian Kaufmann. Da, wo im Herzen des deutschen Landes, in den lieblichen Thüringer Bergen, die freundliche Saale den Fuß der Höhen umspült,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_155.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)