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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

erteilt, verachtet alle Salonklimperei. Und endlich darf sie Tante Klementine „Guten Tag“ sagen, die im Turmgeschoß ihr Krankenzimmer hat und um diese Zeit glücklich von der Frau Hanne, ihrer Pflegerin, in den Lehnstuhl gebracht worden ist, der einen Tag wie alle Tage am Fenster steht, dem Fenster, das von allen des Herrenhauses die weiteste Aussicht hat, die die Gelähmte so liebt, die arme gelähmte sanfte Tante Klementine.

Ditscha hat ihr kaum die Hand geküßt und nach ihrem Befinden gefragt, so muß sie Tante Anna helfen, allerhand Kleidungsstücke für den Missionsverein nähen, und nun folgt der Mittag, und nach dem Mittag schlafen die Herrschaften und Ditscha kann machen, was sie will. Sie nutzte bisher ihre Zeit mit Lesen aus, das heißt, sie schlich heimlich in die Bibliothek, die bis vor zehn Jahren immer wohlversehen war, seitdem aber, seitdem das große Unglück geschah, nicht um ein einziges Buch bereichert wurde. Ditscha verlebt ihre schönsten Stunden in dem verlassenen stillen Raum, wo es nach Staub und Moder riecht, und wo sie nur lesen kann, wenn sie das Buch auf die Fensterbank legt nahe einem Spalt der immer verschlossenen Läden, der ein wenig Tageslicht durchläßt. Aber das hat sie nie gestört, sie hat gelesen, wie ein Durstiger trinkt, Reisebeschreibungen, Weltgeschichte, sentimentale Romane und Memoiren, alles, alles, bis sie eines Tages die Thüre verschlossen findet und Tante Anna am nächsten Morgen in der Andacht davon spricht, daß das Lesen weltlicher Bücher Gift sei für junge Mädchenseelen. Da weiß Ditscha, wer ihr den Weg versperrt hat zu der einzigen Zerstreuung, und nun füllt sie die freie Zeit mit Nichtsthun aus, im Sommer unter den Bäumen des Parkes, wo sie stundenlang liegen und eine halbzerbröckelte Nymphe in Rokoko-Geschmack anstarren kann, oder im Winter auf ihrer Chaiselongue, wo sie, statt besagter Nymphe, die verschnörkelte Stuckdecke ihres Zimmers betrachtet.

Was soll sie auch anderes thun? Eins freilich thut sie ausgiebig, sie sehnt sich – nach was? Nach Leben, nach Lachen, nach Arbeit, nach frischer herzerquickender Lust, wie sie der Jugend not thut, und nach jemand, der sie lieb hat, der sie ein bißchen verzieht, ein bißchen verwöhnt, dem sie alles sagen darf, was ihr durch die einsame junge Seele klingt! Sie weiß es selbst nicht, wie sehr sie sich sehnt, und schilt sich undankbar, wenn ihr die Thränen plötzlich aus den Augen stürzen wie eben jetzt. Ja, sie ist undankbar, sie hat’s doch so gut! Sie wird nun gleich zum Fünfuhrthee gehen und darf Tante Anna wieder helfen, Missionsstrümpfe stricken, oder sie darf Onkel sein Lieblingsstück vorspielen, das einzige weltliche, das Tante Anna gestattet hat, ein Potpourri, aus allerhand preußischen Märschen und patriotischen Liedern zusammengesetzt, es fängt an mit dem berühmten: „So leben wir, so leben wir“ und schließt mit: „Heil dir im Siegeskranz“. Und sie darf den Leitartikel der „Kreuzzeitung“ mit anhören; sie darf, wenn der Herr Pastor und der Herr Oberförster zur Whistpartie kommen, mit den Gattinnen der beiden Herren und den Tanten plaudern oder vielmehr – plaudern hören, und da erfährt sie ja alles, was auf zehn Meilen in der Runde vorgeht. Und abends bei Tische frischt der Onkel ein paar alte längstbekannte Anekdoten auf, worüber Tante Bertha lächelt und Tante Anna die Augen verdreht, und dann darf sie Onkel die Pfeife und den brennenden Fidibus bringen und das heiße Wasser zum Rum gießen, denn der Onkel trinkt jeden Abend verschiedene Grogs. Beim dritten Glas pflegt Tante Anna zu verschwinden, denn dann kommt er ins kritisierende Stadium. So sehr er sich auch morgens bei der Andacht vor der gestrengen Schwester fürchtet, mit zwei Glas Grog im Magen ist er imstande, ihr zu trotzen. Er pflegt nach ihrem Abgang zu lachen und sich die Hände zu reiben vor lauter Gemütlichkeit und Wohlbehagen, seine Haltung wird nachlässiger und er sagt zu Ditscha: „Ist noch heiß’ Wasser da?“

Natürlich! Es ist immer noch heiß’ Wasser da. Und sie schenkt ihm auch das vierte Glas noch ein, und dann schickt Tante Bertha sie fort, denn wenn Ditscha das vierte Glas kredenzt, klopft er sie immer auf die Wangen und nennt sie eine „verdammt hübsche Hexe!“ und Tante Bertha ruft laut: „Gute Nacht, Ditscha, träume süß und verschlaf’ die Zeit nicht!“ Dann geht sie, um sich zu Bette zu legen.

So ist der Tag vorüber, und morgen kommt es wieder so und übermorgen wieder und genau so fort, wie nun schon seit drei Jahren, seitdem ihre Gouvernante entlassen und sie vom Pastor Besser konfirmiert wurde, und wie es weiter bleiben wird – großer Gott, wie lange noch!

Sie reckt ihre schlanke Gestalt, die an eine junge Birke gemahnt, und gähnt, indem sie noch rasch die letzten Thränen abwischt. Es ist doch unrecht vom Papa, daß er sie so verbannt – er, in seiner Stellung. Es ist unrecht von Gott, daß er ihr die Mutter so früh nahm, daß sie nicht im Vaterhause aufwachsen durfte, und daß er dem Papa die unselige überflüssige Idee eingab, wieder zu heiraten, jetzt, wo sie ihm den Haushalt hätte führen können. Eine junge Frau hatte er genommen, nicht viel älter als Ditscha, und sie – sie war nun natürlich überflüssig beim Papa, und Tante Bertha, die keine Kinder hat, streckte auch sogleich die Hand nach ihr aus, um sie hier festzuhalten als Pflegetochter – natürlich! Eine Mutter, ohne die geringste Ahnung, was Ditscha gebraucht für ihr junges Dasein, eine Frau, die immer nur von Wirtschaft, von Sparsamkeit und von dem großen Unglück ihres Lebens spricht und gar nicht sieht, daß Ditscha verweinte Augen hat und blasse Farbe.

Und Onkel? Gar kein bißchen Verständnis hat er für sie. Heute früh hat sie ihn flehentlich gebeten, er solle ihr erlauben, eine Kleinkinderschule im Dorfe anzulegen, sie will die Kinder unterrichten und beaufsichtigen, sie wird sie so lieb haben, die blonden blauäugigen kleinen Würmer, die ohne Aufsicht in den Häusern umherkrabbeln, während die Mütter ihrer Arbeit nachgehen; sie fiebert ordentlich vor Eifer, als sie dem alten Herrn ihren Wunsch vorträgt: „Onkel, ach bitte, bitte, ich habe so große Lust dazu! Ich möchte so gern etwas nützen in der Welt!“

Und was hat er geantwortet? Gefragt hat er sie, ob sie nicht recht gescheit wäre. Wie sie denn auf diese Idee käme, sie, die das gar nicht nötig habe. Wenn ein solches Institut wie eine Kleinkinderbewahranstalt – früher habe man von dergleichen nichts gewußt – Bedürfnis geworden sei – nun gut, dann werde er seine Hilfe gewiß nicht versagen, aber dann solle eine geeignete Person zur Aufsicht angestellt werden. Sie, Ditscha, wolle doch sicher nicht einem armen Wesen, das darauf angewiesen sei, sein Brot zu verdienen, hindernd in den Weg treten, indem sie eine Stelle ausfülle – und kurz und gut – „Nein!“ Und nochmal „Nein!“

„Ditscha!“ schallt es jetzt durch den Korridor, „Ditscha–a–a–a!“

Wenn sie sich doch den dummen Namen abgewöhnen wollten! Aber sie wird natürlich „Ditscha“ bleiben in alle Ewigkeit, „Ditscha“, wie ihre polnische Kinderfrau sie genannt und was gar kein Name ist, sondern soviel wie „Kind“ heißt. – Sie bleibt stehen mit gerunzelter Braue, sie heißt Sophie, Sophie und nicht – –

„Ditscha–a–a!“ klingt es noch einmal sehr energisch – das ist Tante Anna!

Sie schreckt zusammen, streicht nerwös mit der Handfläche über den dunklen Scheitel und eilt die breite Treppe hinunter, auf die der letzte Tagesschein noch durch das hohe, mit alten Glasmalereien gezierte Flurfenster fällt.

„Ach, bitte, entschul–.“ Weiter kommt sie nicht in ihrer Rede. Sie bleibt erschreckt und verlegen stehen, denn da sitzt – ein ungewohnter Anblick – beim Scheine der Moderateurlampe ein Fremder am Kaffeetisch zwischen Onkel und Tante und wendet, wie alle übrigen, den Kopf nach ihr, indem er aufspringt und sich verbeugt.

„Herr von Perthien – meine Nichte Sophie von Kronen! Wissen Sie – von meinem jüngeren Bruder die Tochter, dem Oberst von den Dragonern in Mühlen,“ sagt der Onkel.

Ditscha hat das liebliche blasse Gesicht geneigt, und nun sitzt sie da und wagt nicht aufzusehen. Es ist der erste junge Mann, dem sie sich in solcher Weise gegenüber befindet, dieser Herr von Perthien.

„Herr von Perthien ist als Volontär eingetreten, drüben auf der königlichen Domäne Uechte beim Amtsrat Calwerwisch und hat natürlich nicht verfehlen wollen, dem alten Freunde seines Papas ‚Guten Tag!‘ zu sagen.“

Im ganzen ist die Unterhaltung sehr einsilbig, denn Herr von Perthien vermag sich nicht in die Missionsangelegenheiten hineinzudenken, die Tante Anna angeregt hat, und Onkel Joachim ist genötigt, von Wirtschaft, Raps- und Rübenbau und schließlich von Forst- und Jagdverhältnissen der hiesigen Gegend zu sprechen und dem „kleinen“ Perthien zuguterletzt zu sagen, daß er seine Böcke gern selbst schießt, ein einsamer Pirschgang sei das einzige Vergnügen, das er noch habe auf der Welt. Und dabei zwinkert er mit den Augen zu seiner Frau hinüber, die sehr blaß und bedrückt aussieht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_222.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)