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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

das grelle Läuten und der Ruf „Einsteigen, einsteigen!“ ertönte, wieder die Tunneltreppen hinauf nach dem Perron.

Der Schaffner rief und telegraphierte mit beiden Armen, sie rannte, was sie konnte, dem Träger zu, der mit ihrem Gepäck vor der geöffneten Coupéthür wartete. Als er sie gewahrte, warf er rasch ein Stück ums andere hinein und hob sie hinterher. „Fertig!“ rief’s im gleichen Augenblick und die Thür fiel zu.

„Halt!“ rief Toni, als sie im Gepäcknetz ihr gegenüber einen Männerhut bemerkte, schnell wieder zum Fenster hinaus, „ich wollte ja ins Damencoupé!“

„Voll besetzt – Nichtraucher,“ tönte es nur dem bereits rollenden Zug nach. Toni ließ sich erschöpft auf den Sitz fallen, wendete dann die Augen nach dem am anderen Ende sitzenden Mitreisenden und sah – in Lorenz Käsmeyers Gesicht! …

Die Ueberraschung war beiderseits eine so große und peinliche, daß keines die Stille unterbrach. Beide wandten, wie auf Kommando, die Augen zur Seite, um zu überlegen was nun zu thun sei. Endlich griff Lorenz nach dem noch auf dem Sitze liegenden Gepäck und brachte es im Netz unter.

„Ich danke!“ hauchte Toni.

„Bitte sehr, mein Fräulein!“ versetzte er eisig mit steifer Zurückhaltung und nahm wieder an dem andern Ende Platz. Dann schwiegen beide und jedes schaute in seiner Ecke zum Fenster hinaus.

Es war zum Verzweifeln, Toni wünschte sich hunderttausend Stunden weit fort, zu den Schwarzen in Afrika oder an den Nordpol, gleichviel, nur hinweg von diesem Lorenz, dessen sonst so harmlose Gegenwart ihr nun ganz fürchterlich war. Das fehlte jetzt gerade noch zu den Alterationen, die sie seit vorgestern auszustehen gehabt! … Und nun saß man im Schnellzug und konnte vor Prien nicht aussteigen. Rein fürchterlich!

Zehn Minuten vergingen. Draußen flogen in endloser Reihe Telegraphenstangen und Bahnwärterhäuschen vorüber, die lange Rauchwolke qualmte unaufhörlich längs dem Fenster hin und mischte sich mit dem Schneeregen zu einer häßlich grauen Masse. Toni fühlte, daß Lorenz sie von der Seite ansah, und faßte einen Entschluß. So konnte es nicht fortgehen.

„Was für ein schreckliches Wetter!“ sagte sie, als wieder einmal ein starker Regenguß gegen die Scheiben prasselte, halb für sich, halb gegen den andern.

„Ja, zum Reisen ist es schlimm,“ kam es nach einer Pause zögernd zurück.

„Sind Sie heute um elf Uhr von München abgefahren?“ fragte sie, sich jetzt voll nach ihm umwendend in möglichst unbefangenem Tone.

„Nein, ich hatte Geschäfte mit einer Rosenheimer Fabrik,“ erwiderte er, nun auch ganz gefaßt. „Von München bin ich schon vorgestern abgereist. Aber daß Sie auch schon so bald heimkehren?“

„Ich wollte nie länger bleiben als eine Woche,“ sagte sie mit einer überzeugenden Sicherheit.

„So–o!“

Wieder eine Pause. Toni besann sich schnell auf eine neue Rede. Sie schöpfte aus dem bisherigen Verlauf die Hoffnung, allmählich ein unbefangenes Gespräch anzubahnen. Die ganze unangenehme Sache mit Stillschweigen übergehen, das war doch das Allergescheiteste! Sicherlich würde er das auch einsehen und sich danach richten, wie schon so oft, wenn Toni angab und er ihr den Willen that.

„Ist Fräulein Panke noch dort geblieben?“ fragte sie jetzt mit ihrem natürlichsten Ton, indem sie ihr Reisetäschchen vornahm und begann, die einzelnen Kleinigkeiten darin zu ordnen.

„Ich meine schon“ erwiderte Lorenz. „Sie wollte Sie in den nächsten Tagen bei Ihrer Schwester aufsuchen, denn sie glaubte von Ihnen gehört zu haben, daß Sie den ganzen Karneval dort mitmachen wollten.“

Toni biß sich auf die Lippen. „Es ist dem Papa lieber so!“ sagte sie ausweichend. „Und wie hat Ihnen das Fräulein gefallen?“ fragte sie, indem sie ein buntgerändertes Taschentuch hervorzog und dasselbe mit dem Zipfel nach außen in die Tasche ihres Jäckchens steckte. „Ist sie nicht ein bisserl komisch im Umgang?“

Ohne einen Blick nach ihr hinzuwerfen, antwortete er: „Das kann schon sein, aber sie ist daneben eine gescheite Person und hat trotz ihrer scharfen Reden ein sehr gutes Herz. Ich glaube auch, man kann sich ganz verlassen auf das, was sie sagt.“

Ueber den versteckten Vorwurf dieser Worte vergaß Toni die so notwendige Behutsamkeit und erwiderte spitz im Ton ihrer früheren endlosen Dispute:

„Nun, das trifft bei anderen Leuten auch zu. An der Aufrichtigkeit fehlt’s bei uns auch nicht.“

„Es kommt darauf an,“ erwiderte er bedeutsam.

Jetzt aber fühlte sich Toni von einem heftigen Zorn erfaßt.

„Lorenz!“ sie blitzte ihn an, wie sie es von Schulzeiten her gewohnt war, „das verbitt’ ich mir! Wann bin ich je falsch gegen Sie gewesen? Wann hab’ ich je dergleichen gethan, daß Sie glauben sollten – na, Sie wissen schon –“

Er rückte mit einem Schwung von seinem Eckplatz her und ihr gerade gegenüber.

„Nein, das haben Sie nicht, das war meine eigene Dummheit,“ sagte er nun auch voll Erregung. „Aber wenn ich Ihnen nicht gut genug zum Heiraten war, Toni, Freunde sind wir von Kindheit an gewesen, und an mir hätten Sie einen Freund fürs ganze Leben gehabt, auch wenn Sie mir gleich geschrieben hätten, daß es mit dem andern nichts werden kann. Aber daß ich erleben muß, daß Sie mir gar nicht antworten und derweil mit dem liederlichen Maler – Himmel, Herrgott noch einmal! ich hab’s wohl gehört, was der für einen Ruf hat! – da auf dem Wagen herum scharmieren und hernach ihm zulieb Ihren alten guten Freund verleugnen, das, Toni, das vergeß’ ich Ihnen mein Leben lang nicht und deswegen ist’s jetzt auch mit der Freundschaft aus und vorbei. Ich hab’ Sie lieb gehabt seit Jahren, Gott weiß, wie sehr, und hab’ mir deshalb viel zu viel von Ihnen gefallen lassen, aber so ’was hinunterzuschlucken – da müßt’ ich ein armseliger Tropf sein! Meinem schlimmsten Feind möcht’ ich die Tage nicht wünschen, die ich durchgemacht habe; fort und fort habe ich mir’s vorgesagt, wie schlecht Sie mich behandelt haben, und darüber ist mir doch der richtige Stolz gekommen.“ … Er that einen tiefen Atemzug. „Ich hätte es Ihnen nie aus freien Stücken gesagt, aber jetzt, wo es heraus ist, jetzt ist mir’s wohl. Und glauben Sie nur nicht, daß ich jetzt unglücklich bin – das giebt’s nicht bei mir. So oder so! Man kann mit allem fertig werden und vorab, wenn’s einem so leicht gemacht wird wie mir von Ihnen!“

Toni saß starr und schaute den Zürnenden an. In ihrem Leben hätte sie nie geglaubt, daß der schüchterne Mensch so „herauslangen“ könne. Fluchen sogar vor Zorn – der Lorenz! … Und was er jetzt für feindselige Augen machte, es sah ja wahrhaftig aus, als ob es ihm bitterer Ernst sei mit dem, was er sagte!

Noch gestern würde ihr das von dem Abwesenden ziemlich gleichgültig gewesen sein, aber heute, ihm persönlich gegenüber und in sein altvertrautes gutes Gesicht schauend, kam es ihr auf einmal ganz undenkbar vor, daß dieser da im Zorn gegen sie beharren solle, und zwar im gerechten Zorn! …

„Lorenz!“ begann sie kleinlaut, „daß es mit dem Heiraten nichts ist zwischen uns, da haben Sie wohl recht. Sie haben mir ja selbst den Absagebrief geschrieben, also brauche ich Ihnen nicht lang zu sagen, daß ich nicht gewollt hätte. Das ist also fertig und begraben, und wir wollen nie mehr davon reden. Das mit dem ‚nicht gut genug sein‘,“ fuhr sie mit steigender Lebhaftigkeit fort, „das ist übrigens eine Dummheit! Und das andere, daß jetzt alle Freundschaft aus sein soll, erst recht, das giebt’s einfach nicht.“

Sie hielt inne, weil sie glaubte, ihm hiermit genügend entgegengekommen zu sein. Aber Lorenz Käsmeyer schlug ungerührt ein Bein über das andere, warf den Kopf zurück und sagte verbissen:

„Bedaure! Ich habe neulich gesehen, was Sie sich aus meiner Freundschaft machen. Da hilft kein Reden heute, das vergißt sich nicht mehr.“

Er sah, innerlich stolz über diese Probe von Charakterfestigkeit, zum Fenster hinaus, um dem Anblick der kleinen Person auszuweichen, die ihn früher so unzähligemal um den Finger gewickelt hatte. Seit sie hier vor ihm saß und mit ihm redete, konnte er nicht mehr so wütend sein als die Tage her, wenn er nur an sie dachte. Aber sich wieder herumkriegen lassen? Nein, davon war keine Rede! Absolut nicht! …

Er betrachtete angelegentlich die eintönigen Tannenwälder und die dunkelgrünen Wasser des Simsees, an dessen Ufern der

Zug hineilte. Es wurde für ein Weilchen still. Toni saß mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_235.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)