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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

bildet außerdem einen Gradmesser für das willkürliche oder unwillkürliche Protzentum des Trägers.

„Aber ich trage ja die Ohrringe gar nicht aus Eitelkeit,“ hört man sehr oft sagen, „sondern meiner Augen wegen.“ Es ist eine alte, besonders in den niederen Volksklassen verbreitete Anschauung, daß durch das „Stechen“ und Tragen von Ohrringen die Augenkrankheiten verhütet oder geheilt werden könnten, und sie läßt sich, wie so mancher Aberglaube, nicht ausrotten. Insbesondere sind es die Kinder, speziell die sogenannten „skrofulösen“, die Ohrringe haben müssen wegen der bei ihnen sich häufig einstellenden Augenaffektionen, auch das Zahnen der Kinder muß häufig „erleichtert“ werden durch das Stechen von Ohrringen. Heilige Einfalt! Diese Meinung hat auch nicht den Schein einer Berechtigung für sich. In keinem einzigen Falle hat sich bei rein objektiver wissenschaftlicher Betrachtung irgend welch günstiger Einfluß der Ohrringe auf Augenleiden nachweisen lassen.

Der Ausführung des Ohrringstechens aber haftet etwas Barbarisches an. Ganz abgesehen von den unnötigen Schmerzen, die dem Kinde oder dem sonst Betroffenen durch dieselbe erwachsen, ist sie keineswegs ungefährlich. Gewöhnlich sind es Bader, Heilgehilfen, Hebammen, die die Durchbohrung des Läppchens mittels einfacher Ahlen oder auch glühend gemachter Nadeln vornehmen; zur völligen Beruhigung des Operierten wird auch manchmal „eine goldene Nadel“ zum Durchstechen benutzt, hierauf werden dann entweder Seidenfäden durch das Loch gezogen und dort geknotet so lange liegen gelassen, bis das Loch nicht mehr zuwächst, oder es wird auch sofort das Ohrgehänge eingesetzt. In der Folge kommt es nun beinahe durchgehends zu einer starken Schwellung und Rötung des ganzen Teiles, verbunden mit starker Schmerzhaftigkeit. „Das ist notwendig,“ sagen die betreffenden „Operateure“, es ist aber nur eine ganz natürliche Folge der den Grundgedanken unserer heutigen chirurgischen Anschauung direkt hohnsprechenden Behandlungsweise! Die unreinen Hände, die unreinen Nadeln (selbst eine „goldene“ Nadel ist nicht rein, solange sie nicht durch entsprechende Vorbereitung keimfrei gemacht wird), der unreine Seidenfaden, das Ohrgehänge selbst (auch wenn es golden ist), sie alle bringen und pressen geradezu eine Unzahl von Infektionsstoffen in die frische unbedeckte Wunde hinein; sie und die direkten Veranlasser dieser Entzündung – eine reine, chirurgisch rein angelegte und behandelte derartige Wunde eitert nie, noch schwillt sie unter Schmerzen an. Nicht selten entwickelt sich aus der kleinen örtlichen Wunde ein Wundrotlauf, der den Patienten dem Rande des Grabes nahe bringen kann, ja es ist sogar wirklich eine Anzahl von Todesfällen bekannt geworden, die nur der unglücklichen Mode in die Schuhe zu schieben sind.

Ein blühendes Kind wegen eines solchen Unsinns eine Leiche! Aber auch weiterhin dauert oft die üble Einwirkung fort; die kleinen Wundkanäle werden immer wieder gereizt (durch die Gehänge selbst, die oft mit Schmutz, Grünspan überzogen sind, durch das Ziehen an denselben), und so kommt es zu nässendem Ausschlage, der sich auf das ganze Ohr, den ganzen Kopf weiter verbreiten kann und den armen Kleinen unendlich viel Pein verursacht. In jeder Zeit kann auch von diesen chronisch erkrankten Teilen ein Rotlauf, eine Gesichtsrose sich entwickeln. Die in der Nähe des Ohres gelegenen Drüsen können durch den immerwährenden Reiz geschwellt, vergrößert werden, zuweilen sogar in Eiterung übergehen, und man sieht dann solche Kinder gewöhnlich für „skrofulös“ an, obschon sie es keineswegs sind, sondern nur die Folgen eines thörichten unbesonnenen Eingriffes zur Schau tragen müssen.

Das sind aber noch lange nicht alle Schattenseiten der Folgen des Ohrringstechens. Selbst wenn die Stichkanäle längst zugeheilt, überhäutet sind, stellen sich gar nicht so selten noch ganz andere Folgeerscheinungen ein. Es bilden sich, hervorgebracht durch den fortdauernden Reiz, den die Anhängsel ausüben, Verdickungen, Knoten in dem Läppchen, die, langsam wachsend, allmählich bis zu Tauben-, ja Hühnereigröße herangedeihen. Besonders in manchen Tropengegenden erreichen diese Geschwülste eine außerordentliche Größe; aber auch bei uns kommen sie zur Beobachtung und ich selbst war schon zu wiederholten Malen in der Lage, wegen solcher Neubildungen große Teile des Ohres mit dem Messer abtragen zu müssen.

Daß außer diesen harten Geschwülsten sich noch andere aus den Stichkanälen und ihrer Umgebung entwickeln können, die den Bau der Knotentuberkulose aufweisen, oder solche, die sich später in Krebsgeschwüre umwandeln, das möchte ich nur noch andeuten. Denn schon zur Genüge geht aus dieser in keiner Weise übertreibenden Darstellung hervor, daß der Brauch des Ohrringtragens nicht bloß vom ästhetischen Standpunkte, sondern speziell auch vom einfach sanitär hygieinischen aus wegen der großen Reihe der möglichen schlimmen Folgen unter allen Umständen verwerflich ist.

Obschon nun ein großer Teil unserer wahrhaft gebildeten und denkenden Frauen einsehen gelernt hat, daß das Ohr keinen Schmuck weiter braucht, am allerwenigsten einen gefährlichen, so muß doch das Bewußtsein der direkten Schädlichkeit und Gefährlichkeit in noch viel weitere Volkskreise dringen. Dann werden normale gesunde schöne Ohren viel häufiger zu sehen sein als heute. Und das wäre sehr wünschenswert, denn nur das unentstellte Ohr erlaubt uns, in gewisser Beziehung ihm eine physiognomische Bedeutung zuzuschreiben, wenn wir auch nicht so weit gehen wollen wie ein französischer Gelehrter, der aus der Form der Ohrmuschel den Charakter, die geistige Begabung und die Echtheit der Familienabstammung bei jedem Einzelnen mit untrüglicher Sicherheit zu erkennen vermeinte.

Nun einen Schritt weiter!

Wir kommen jetzt zu dem beliebten Kapitel der Ohrfeigen und Maulschellen. Auch diese verbreitete Züchtigungsart, die der Vater dem Sohne, der Meister dem Lehrjungen etc. in einer berechtigten oder unberechtigten Zornesaufwallung zuteil werden läßt, kann sich für das Ohr verhängnisvoll erweisen. Ich bin im Prinzip durchaus nicht gegen einen gewissen Grad der körperlichen Züchtigung; ein ungezogener Junge wird am eindringlichsten und nachdrücklichsten bestraft burch eine mit körperlichem Schmerzgefühl verbundene Strafe, aber daß der Kopf gerade dazu herhalten soll, das ist völlig ungerechtfertigt, ja sogar zu verpönen, weil die Folgen für den Betroffenen äußerst schlimmer Natur sein können, während es niemals Schaden bringen wird, wenn wir einem ungezogenen Sprößling die „Hosen ordentlich anziehen“ und seine Kehrseite mit einem Haselnußstocke innige Bekanntschaft machen lassen.

Der Kopf und das Ohr speziell muß von Schlägen frei bleiben. Freilich ist es ja durchaus nicht notwendig, und das soll auch hier nicht behauptet werden, daß jede Ohrfeige eine üble Folge haben muß, aber daß es eben gerade oft genug zu unglücklichen Ereignissen dabei kommen kann, muß uns abhalten, von dieser Art der Züchtigung oder der Zornesäußerung Gebrauch zu machen.

Und weshalb, höre ich fragen, ist denn solche Züchtigung so sehr bedenklich? Weil durch sie gerade das Gehörorgan als solches schwer in seiner Funktion, vielleicht auf Lebensdauer, beeinträchtigt werden kann. Das kann aber doch wohl bloß vorkommen bei recht starken, heftigen Schlägen, nicht bei einem einfachen leichten Klaps!! Gemach! Das ganze Ohr ist ein so wunderbar fein gebautes Organ, daß es unter Umständen schon auf recht leicht erscheinende Gewalteinwirkungen hin seinen Dienst versagt und leider oft genug auf die Dauer.

Vergegenwärtigen wir uns in Kürze den mechanischen Vorgang einer Ohrfeige und ihrer Wirkung. Die schlagende Hand – und gewöhnlich ist es, da die meisten Menschen rechtshändig sind, die rechte, falls nicht von hinten meuchlings zugeschlagen wird – trifft mit einer gewissen, mit Erschütterung einher gehenden Gewalt zunächst auf die ihr entgegenstehende Ohrmuschel, am häufigsten also die linke, und schließt den Gehörgang, der zum Trommelfell führt, für einen Moment mehr oder weniger luftdicht ab. Hierdurch wird die Luftsäule innerhalb des Gehörganges außerordentlich rasch zusammengedrückt und sie wird sich, einem allgemeinen physikalischen Gesetze zufolge, wieder auszudehnen trachten und zwar geschieht das natürlicherweise in der Richtung des geringsten Widerstandes.

Da die komprimierte Luft nach außen durch den Gehörgang so schnell nicht entweichen kann, so muß sie naturnotwendig auf das ihr entgegenstehende Trommelfell auftreffen. Obschon nun das Trommelfell trotz seiner Dünnheit (sein Dickendurchmesser beträgt im allgemeinen 0,1 mm!) für gewöhnlich eine außerordentliche Widerstandsfähigkeit und Elastizität besitzt und erst bei einer Belastung mit einer Quecksilbersäule von etwa 150 cm Höhe, bzw. einem Luftdrucke von etwa 13/4 Atmosphären, reißt, so kommt es eben doch leider recht häufig vor, daß der durch die Ohrfeige bewirkte Luftdruck genügt, eine Sprengung zu verursachen. Es braucht der Schlag, wie gesagt, durchaus kein heftiger gewesen zu sein, und doch kann es zum Zerreißen der Membran kommen. Da spielt eben noch eine Reihe anderer Verhältnisse mit, wie der zufällige luftdichte Abschluß, dann der Umstand, daß das Ohr nicht vorbereitet ist auf die jähe Einwirkung der Luftwelle. Haben wir doch in unserem Ohre

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_256.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)