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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Es war eine hohe markige Gestalt, die vor mir stand. Das Haar war etwas lang gehalten, ein dünner Knebelbart umsäumte das Kinn, das Gesicht war nicht schön, doch ausdrucksvoll und sympathisch, und die Hand, die sich mir entgegenstreckte, hart und schwielig. Die Kleidung dieses etwa vierzigjährigen hochgebildeten Feldarbeiters bestand aus einer gehäkelten Mütze und einem groben Kittel, dessen Aermel mit Leder eingekantet waren. Am Halse ragte ein blaues Baumwollenhemd hervor, und einfache Lederschuhe bekleideten die Füße. Von letzteren reichten weiße strumpfartige Umhüllungen empor, durch welche das Beinkleid an den Knieen festgehalten wurde.

Mit einer höflichen Verbeugung stellte sich mir Herr S. vor und gänzlich zur Verfügung. Seine Versicherung, es berühre ihn äußerst sympathisch, daß ich zu Fuß reise, gab mir dann auch den Mut, ihn um die Erlaubnis zu bitten, meine Erinnerungen an Krinitza in der „Gartenlaube“ schildern zu dürfen, welchem Verlangen er in liebenswürdigster Weise entsprach.

Bevor ich mich nun daran mache, das Gesehene zu schildern, möchte ich das Ergebnis eines kurzen Gespräches mitteilen, das wir – mein neuer Bekannter und ich – auf dem Wege in die Weinberge führten. Herr S. war nämlich in seiner freien Zeit der Weinküfer der Gesellschaft.

Ueberall, wo ich bis dahin von der Kolonie, in der ich nun weilte, gehört hatte, hieß es, daß dieselbe eine Verwirklichung der Tolstoischen Ideale darstelle, zu denen ja auch die Rückkehr zum Feldbau gehört. Dem ist aber nicht so.

Die Kolonie Krinitza hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein Geschlecht heranzuziehen, das durch in der Jugend ihm angewöhnte Anspruchslosigkeit in die Lage kommen soll, sich eine gewisse Unabhängigkeit zu wahren. Es wird den Zöglingen von Krinitza und auch dem Nachwuchs der Kolonisten die Möglichkeit geboten, sich die gediegenste Bildung anzueignen, daneben aber den Ackerbau als Beruf zu erlernen und so sich zu gewöhnen, ihren Erwerb nicht aus den Händen anderer, sondern einzig und allein aus dem Boden, aus der Erde – kraft der Arbeit ihrer Hände – zu schöpfen.

Ohne irgend eine extreme Ansicht vertreten zu wollen, sind die Krinitzer der Meinung, daß bei jedem Dienstverhältnis viele das Leben verbitternde Umstände mit unterlaufen. Deshalb soll der Mensch durch die ihm erteilte Erziehung befähigt werden, falls er sich diesem Mißstande nicht zu beugen vermag, sich seinen Lebensunterhalt durch körperliche Arbeit zu erringen, ohne – wie schon gesagt – dabei der Wohlthat einer höheren Bildung verlustig zu gehen.

„Wir fühlen uns freilich in unserer augenblicklichen Lebenslage nicht vollständig glücklich,“ äußerte Herr S. unter anderem, „denn uns haftet noch vieles aus unserm früheren Leben an. Doch wir hoffen, unsere Zöglinge so weit zu bringen, daß in ihnen unsere Ideale verwirklicht werden. Es soll keine durchgreifende, die ganze Welt umfassende Reform sein, der hier vorgearbeitet wird,“ hieß es weiter, „daher Kirche, Staat, Ehe, Handel und Wandel bestehen bleiben müssen; nur sehen wir in der körperlichen Arbeit, die mit einer gediegenen Bildung gepaart ist, ein Zufälligkeiten weniger unterliegendes Glücklichsein; wie groß jedoch das Häuflein dieser so durch uns geschaffenen Menschen einst sein wird, ist eine Frage der Zeit!“

Nun ist bekannt, daß der Einsiedler von Jasnaja Poljana, Graf Leo von Tolstoi, außer der körperlichen Arbeit, die auch er für eine Vorbedingung zum Glücklichwerden hält, noch manches andere fordert, um die moderne Menschheit einem Leben zuzuführen, das nach seiner Meinung allein ihrer würdig ist. Er hat der gesamten modernen Bildung, der Kunst und der Ehe, den Krieg erklärt und ist ein Fanatiker der Askese. Während meines zweitägigen Aufenthaltes in der Kolonie fand ich nun Gelegenheit, die Prinzipien zu beobachten, welche bei der Erziehung der dortigen Zöglinge angewandt werden, und ich bin zu der Ueberzeugung gelangt, daß die hier versuchte Heranbildung von glücklichen Zukunftsmenschen viel weniger utopistisch ist als die Tolstoischen Pläne zur Wiedergeburt der Menschheit.

Alles, was es dort giebt, ist Gemeinbesitz, keinem Bedürfnis zur Erzielung einer gewissen Behaglichkeit wird entsagt; was aber an Barmitteln erübrigt wird, gelangt nicht zur Verteilung, sondern wird dazu verwandt, außer der Kolonie segensreich zu wirken; die Schule und Kirche in Beregowaja verdanken diesem Grundsatz ihre Entstehung.

Aufnahme erhält in der Kolonie jeder, der sich dort meldet. Wer neu hinzukommt, muß die Versicherung geben, keiner der Regierung feindlichen Partei anzugehören und von nationalen Vorurteilen sich frei halten zu wollen. Wohnung und Nahrung erhält er als Gegenleistung für eine seinen Kräften entsprechende Arbeit unentgeltlich, Kleider jedoch erst nach drei Monaten. Ein Jahr hat er Praktikant zu sein, bevor er der Genossenschaft einverleibt wird. Schließlich wurde ich noch gebeten, in meinem Bericht ausdrücklich zu betonen, daß es bis jetzt für keines der Mitglieder ein Notbehelf war, dort um Aufnahme nachzukommen, denn der Patron der Genossenschaft ist z. B. Mathematiker und Jurist und außer Herrn S giebt es dort einen Techniker, einen Absolventen des Alexander-Instituts in Warschau, einen Mediziner aus dem dritten Kurse der Moskauer Universität und unter den Damen eine Gouvernante, die des Russischen, Deutschen, Französischen und Englischen vollständig mächtig ist und dazu noch Violin- und Klavierunterricht erteilt.

Auf unserem Rundgang durch die Kolonie waren wir nun in den Weinbergen angekommen. Der Boden, auf welchem hier ausschließlich die Reben gezogen werden, besteht aus einer verwitterten Steinart, die „Treskun“ genannt wird, weil sie in der Luft durch die Witterungseinflüsse zerfällt. Dieser Boden ist ungewöhnlich kalihaltig, daher sehr kräftig. Die Reblaus hat hier noch keine Verheerungen anzurichten vermocht. Das Vorhandensein des Treskun im Kaukasus macht sich häufig, da er in abgegrenzten Schichten vorkommt, durch die über ihm sich hinziehenden Baum-, sowie Buschgruppen von auffallend üppigem Aussehen bemerkbar. Auch hier gewährte das vier Dessätinen (437 Ar) große, mit Sauternes- und Burgunderreben bestandene Gelände einen sehr günstigen Eindruck, und obgleich kaum der fünfte Teil aller Stöcke alt genug war, um eine Ausbeute zu liefern, so hatte man doch im laufenden Jahr etwa 24 500 Liter Wein geerntet. Bei den hier erforderlichen Arbeiten sind alle verfügbaren Hände thätig, selbst die noch ungeschickten Hände der kleinen Zöglinge. Das hat freilich zur Folge, daß beim Pflanzen neuer Stöcke stets bis zu 15 Prozent derselben eingehen, was man um des Prinzips willen gern in Kauf nimmt.

Während die Weingärten in nächster Nähe der Wohnhäuser auf dem Plateau gelegen waren, führte mich nun mein liebenswürdiger Begleiter hinab in das Thal, in welchem einerseits bis ans Ufer der Pschada, anderseits fast von den Wogen des Meeres bespült, die Felder gelegen sind, die in diesem Jahre eine überreiche Ernte gegeben hatten, so daß durch den Verkauf von Getreide eine ansehnliche Einnahme erzielt werden konnte. Trotzdem haben aber die strebsamen Kolonisten beschlossen, die Felderwirtschaft so einzuschränken, daß sie nur dem eigenen Bedarf Rechnung trägt, da das Getreide hier schon seit Jahren sehr niedrig im Preise steht. Dafür sollen aber in rationeller Weise eine Wiesen- und auch eine Milchwirtschaft eingerichtet und in der Folge Versuche mit dem Anbau verschiedener Futterkräuter angestellt werden.

Demgemäß werden in Zukunft als landwirtschaftliche Erwerbszweige in Krinitza die Hauptrolle spielen: der Wein-, Garten- und Arzneipflanzenbau, die Milch- und Wiesenwirtschaft und die Bienenzucht.

Ganz versteckt zwischen Bäumen steht in dem Thal, nicht weit von der Pschada, ein kleines Häuschen, in welches zu treten mich nun ein hinzugekommener alter Herr bat. Es war einer jener jovialen Leute, wie sie nur ein sorgenfreies Alter hervorbringt. Mit einem braunen Kittel angethan, in dessen Tasche ein großes Stück Brot steckte, stellte er sich mir als Leonid Alexandrowitsch D. vor, Bienenvater der Kolonie. Im Gürtel trug er ein kleines Messer und eine Laterne, sonst war er bis auf die weißen Beinumhüllungen ganz ebenso gekleidet wie mein Begleiter. Auf die Frage, was er am Tage mit der Laterne wolle, antwortete er schmunzelnd nach dem Vorbild des Diogenes, er suche Menschen, und nun traten wir in jenes Häuschen ein, in dem hübsch geordnet 30 Bienenstöcke modernsten Systems für den Winter Aufstellung gefunden hatten.

Leonid Alexandrowitsch hatte allerdings besondere Ursache, sich zufrieden zu fühlen. Er konnte von überraschend günstigen Resultaten seiner Bienenzucht berichten, und dieselben verdankte er dem Erfolg seiner eigenen Erfindung. Er hatte künstliche Waben und viereckige Holzrahmen hergestellt, die, in geeigneter Weise eingerichtet und für Drohnen und Königin unzugänglich gemacht, nur den Arbeitsbienen allein zugänglich waren, die sie nun mit schönem reinen Honig füllten. Nach auswärts fanden diese Rahmen, von beiden Seiten mit Fensterglas vermacht, mit buntem Papier und einem Bildchen versehen, für 60 Kopeken das Stück

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_300.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)