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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Ihr vor allem zu schweigen über die Geschichte, es gilt die Zukunft des Mädels,“ setzt er hinzu.

Er überlegt einen Moment. „Fräulein Ditscha hat Sehnsucht gehabt nach ihrem Papa und ist heimlich nach Berlin gereist“ – schärft er Hanne ein, „und Fräulein Anna und ich, wir reisen mit dem nächsten Zuge hinterher – verstanden? Wir reisen hinterher, weil wir unsern Glückwunsch zur Geburt des Jungen selbst bringen wollen. Geh’ hinunter und erzähle das – wehe dem, der etwas anderes glaubt.“

Herr von Kronen ist plötzlich der thatkräftige zielbewußte Mann früherer Tage. „Um drei Uhr fünfundvierzig geht ein Zug nach Hamburg,“ fährt er fort. „Friedrich soll mir in die Reisekleider helfen, Anna, mach’ Dich fertig, Du begleitest mich, ich muß versuchen das ehrvergessen Geschöpf noch vom Rande des Abgrundes zurückzureißen.“

„In eine Besserungsanstalt müßte man sie bringen,“ bemerkt Tante Anna, die Röte des Zorns auf den Wangen.

„Wäre sie mein, ich schösse sie über den Haufen,“ knirscht Joachim, indem er das Zimmer verläßt. Tante Bertha eilt ihm nach, sie wagt kaum, etwas Besänftigendes zu sagen, sie ist selbst so außer sich, so empört über des Mädchens Flucht, daß sie nervös zittert. „Herr Gott, was muß man alles erleben!“

In stummer Eile werden die Vorbereitungen zur Abreise getroffen. „Wo, um Gotteswillen, wollt Ihr sie denn in Hamburg suchen, Joachim?“ fragt Frau Bertha endlich.

„In irgend einem Hotel am Hafen, wo sonst?“ antwortet er, auf die Polizei werde ich gehen. Sie denken doch nicht, daß wir ihnen so bald nachsetzen, wie wollen sie denn überhaupt um Weihnacht nach Helgoland kommen? Ist gar keine regelmäßige Verbindung! Ich werde den Vogel schon erwischen, und Gnade Gott dem Schurken, wenn er mir unter die Hände gerät – die Hundepeitsche nehme ich mit!“

Tante Anna kommt in ihrem Pelz und mit dem Ausdruck tief gekränkter weiblicher Würde. „Daß ich je so eine Reise machen muß, hätte ich auch nicht geglaubt,“ seufzt sie. „Gott prüft uns schwer! Kaum schickt er einen Sonnenstrahl, so folgt schon die Wolke hinterher, und was für eine Wolke!“

„Halte Deine Reden ein andermal, Schwester, und komm, der Wagen ist da,“ unterbricht sie Joachim. „Adieu, Bertha – Gott weiß, wie wir wiederkommen!“

In wenig Minuten hört die noch immer wie betäubt dastehende Frau das Knirschen der Räder auf dem Kies des Parks, im schärfsten Trabe entfernt sich der Wagen.

Frau Bertha und Klementine sehen sich fast nie; erstere kann es so wenig wie ihr Mann überwinden, daß diese die unschuldige Ursache zu des Sohnes Tode war. Heute, in ihrer grenzenlosen Angst und Verwirrung, steigt sie die Treppe empor und tritt in die Schlafstube der kranken Schwägerin.

Klementine von Kronen sitzt aufrecht im Bette mit fieberheißen Wangen und gerungenen Händen. Sie sieht der Eintretenden entgegen, als sei sie ein Gespenst.

„Entschuldige, Klementine,“ sagt die zitternde Frau, „ich weiß nicht wohin vor Angst, ist es nicht fürchterlich? Wie konnte sie uns das anthun?“

„Erwachst Du endlich ’mal aus Deiner Trauer?“ grollt es zurück. „Hättest Dich früher dazu halten, früher die schlafenden Augen aufmachen sollen, dann wär’ ein großes Unglück weniger geschehen.“

„Ums Himmelswillen, was kann ich dafür, Klementine?“

Frau von Kronen ist ganz fassungslos auf den Stuhl zu Füßen des Lagers gesunken und starrt ihre Schwägerin an, als sei diese wahnsinnig geworden.

„Ihr allein könnt dafür, Du und Joachim!“ ruft die Kranke schneidend. „Dem Toten habt Ihr gelebt und der Lebendigen vergessen! Sie hat sich nach Liebe gesehnt und hat keine gefunden bei Euch, und da hat sie das erste beste, das sie dafür hielt, in ihr Herz geschlossen. – Ich habe gezittert für sie schon lange Zeit, aber was konnt’ ich thun, die Kranke, Gelähmte? Wenn mein Bruder Klaus sein Kind fordert und Ihr könnt es ihm nicht geben, so tragt Ihr die Schuld. Gott hat Euch viel genommen – ja! Aber Ihr trotzt mit ihm – alles, was er Euch gegeben hat an Lieblichem und Schönem, um Eure Wunde zu lindern, das habt Ihr mißachtet, habt es höchstens geduldet. Verzeih’, daß ich gerad’ heute so mit Dir spreche, aber – wer weiß, wann ich Dich wiedersehe, und – auf der Seele brannte es mir schon lange.“

Schwer atmend sinkt sie zurück. Frau von Kronen hat unter ihren anklagenden Worten den Kopf gesenkt, wie schneidige Schwerter sind sie ihr in die Seele gedrungen. „Dem Toten habt Ihr gelebt und der Lebendigen vergessen!“ Wie furchtbar wahr das ist, und wie weh der Blitz der Erkenntnis thut. „Klementine,“ stammelt sie, „Du weißt nicht, wie einer Mutter zu Mute ist, die ihr Einziges hingeben mußte!“

„An wen gabst Du es? An den Tod!“ ruft die Kranke laut. „Du weißt, es ist geborgen, gerettet vor allem Schmutz, vor aller Gemeinheit des Lebens – das Kind, an dem Du hättest Mutterstelle vertreten sollen, hast Du an das Leben verloren und weißt Du, an was für ein Leben? Weißt Du, welchem Verhängnis sie entgegen geht? Weißt Du, wie tief sie sinken kann? Ob es nicht so tief ist, daß sie sich nie wieder emporzuheben vermag? Und wenn Ihr sie wiederbekommt, vielleicht noch gerettet, noch rein an Leib und Seele, glaubst Du nicht, daß selbst dieser beabsichtigte Fehltritt ein ewiger Schandfleck für sie bleiben wird? Glaubst Du, daß ihre Seele sich je wieder von dem Drucke freimacht, den ihr diese unselige Erinnerung auferlegen muß?“

„Klementine, um Gotteswillen! Ach, wäre es doch erst morgen!“ jammert die gefolterte Frau. „Klementine, sprich nicht weiter, ich kann’s nicht hören heute – erbarme Dich!“

„Es hat auch keinen Zweck mehr,“ sagt die Kranke gleichgültig, preßt ihr Taschentuch vor den Mund und bleibt stumm.

Welch ein Tag! Ein Tag, an dem ein neuer, glückverheißender kleiner Stern aufdämmerte und ein heller, blitzender von seiner Höhe herabsinkt!

Wie wird es werden?

(Fortsetzung folgt.)




Die Suggestion im Dienste des Aberglaubens.

Von 0C. Falkenhorst.
Hexenwahn und Hexenverfolgung. – Die Hysterie. – Besessene.


Seit jeher war es den Menschen bekannt, daß seelische Regungen einen bestimmten Einfluß auf den Körper und seine Verrichtungen ausüben. Alltäglich kann ja beobachtet werden, wie Furcht und Schrecken die Muskeln lähmen und Blässe erzeugen, wie der Zorn das Blut aufwallen läßt, wie Kummer und Sorge an der Gesundheit nagen und die Kräfte zerrütten. Erst in der jüngsten Vergangenheit kam jedoch die Wissenschaft zu der klaren Erkenntnis, daß die Macht des Geistes über den Körper eine weit größere sei, daß nicht nur Gefühle, Stimmungen und Leidenschaften, sondern auch einfache Gedanken und Vorstellungen die Verrichtungen des Körpers zu verändern und in gewisse Bahnen zu leiten vermögen. Wer kennt nicht heute die Macht der Suggestion! Diese Erkenntnis ist nicht nur für den Arzt, der berufen ist, Leiden zu heilen und Krankheiten zu verhüten, von höchster Bedeutung, sie verleiht auch dem Geschichtsforscher den Schlüssel zum Verständnis einer Anzahl rätselhafter Bewegungen, die im Laufe der Zeiten weitere Volkskreise ergriffen, läßt ihn die festesten Säulen erkennen, aus welche der finstere Wahn des Aberglaubens sich jahrhundertelang zu stützen vermochte.

Wir wollen darum im Nachstehenden versuchen, an einigen geschichtlichen Beispielen zu zeigen, in welcher verderblichen Art die Suggestion gepaart mit krankhafter nervöser Anlage, den finstersten Aberglauben genährt und schlimmer als verheerende Kriege, einer Pest gleich, gegen die Menschheit gewütet hat.

Als ein Schandmal ragen aus der Geschichte der europäischen Christenheit die Hexenprozesse hervor. Was bei ihnen am meisten befremdet, ist die Thatsache, daß ihre Blütezeit nicht in das finsterste Mittelalter, sondern in die durch eine hohe Blüte der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_312.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)