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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

vergnügt nach Hause, bald aber klagten sie über Beklemmung, fielen zur Erde, verzerrten das Gesicht, bekamen Krämpfe, hatten den Mund verschlossen, knirschten mit den Zähnen, verdrehten die Augen, bluteten aus den Ohren, die Magengegend schwoll wie eine Faust auf, der Kopf wurde verdreht, der Rücken krümmte sich zu einem Bogen und der eine Knabe war auf der Stelle tot.

Die ältere Schwester erbrach eine Hand voll Wurzeln, verfiel aber sogleich darauf in Epilepsie, verlor den Gebrauch der Sinne, litt an Krämpfen, verdrehte den Kopf. Man gab ihr einen Löffel von Theriak mit Essig ein, worauf sie noch den Rest der gegessenen Wurzeln von sich gab und die schlimmen Zufälle nachließen. Sie lag aber noch 24 Stunden wie tot da und man bemerkte an ihr weder Wärme noch Atemholen. Dann fing sie an, sich zu erholen, hatte sich aber die Zunge zerbissen, konnte lange Zeit nicht recht essen und klagte noch über Beklemmung. Vier Tage lang war sie so schwach, daß sie nicht gehen konnte, allmählich aber erholte sie sich und wurde wieder ganz gesund.

Einem achtjährigen Knaben, welcher schwindlig geworden und umgefallen war, brach man den Mund auf. Der Krampf, welcher die beiden Kinnladen aneinander preßte, war so heftig, daß dieses nur mit dem Verluste einiger Zähne geschehen konnte. Auch war es zu spät, er vermochte die ihm eingegebenen Brechmittel nicht mehr zu schlucken und starb nach einer halben Stunde.“

Zufällige Vergiftungen mit Wasserschierling kommen auch in der Gegenwart häufig genug vor. Prof. Robert teilt in seinem Lehrbuch der Intoxikationen mit, daß in medizinischen Zeitungen im Jahre 1892 allein fünf derartige Vergiftungen mit tödlichem Ausgang beschrieben wurden. Man muß aber dabei in Betracht ziehen, daß die meisten dieser Unglücksfälle von Aerzten nicht beschrieben werden, der Statistik sich also völlig entziehen und die Zahl derselben in Wirklichkeit bedeutend größer ist.

Aus verschiedenen Teilen dieser Pflanze, namentlich aber aus der Wurzel wurde der Giftstoff rein dargestellt; er ist ein zähflüssiges Harz, das den Namen Cicutoxin erhalten hat und vor allem auf die Nervencentren wirkt. Darum stellen sich auch nach Genuß des Wasserschierlings beim Menschen zunächst Uebelkeit und Erbrechen, sowie kolikartige Schmerzen im Unterleibe ein, worauf nach kürzerer oder längerer Zeit Taumel und Bewußtlosigkeit eintreten. Sodann kommt es zu furchtbaren epilepsieartigen Krämpfen, Zähneknirschen und Schaumabsonderung im Munde, zuletzt wird die Atmung gelähmt und es tritt der Tod infolge der Erstickung ein.

Ein Mittel, das die Wirkung des Cicutoxins in dem Körper aufheben würde, ist nicht bekannt; da aber die Stärke derselben von der Menge des ins Blut übergegangenen Giftstoffes abhängt, so muß man, wenn eine solche Vergiftung stattgefunden hat, schleunigst für eine energische Entleerung des Magens durch Erbrechen oder vermittels der Magenpumpe sorgen. Dadurch kann der Vergiftete vor allem vor dem Schlimmsten bewahrt werden. Weitere Hilfe muß dem Arzte überlassen werden, der durch verschiedene Mittel einzelne Symptome der Erkrankung bekämpfen kann.

So furchtbar sind die Wirkungen des Wasserschierlings, mit dessen Saft nach der Meinung einzelner Forscher Sokrates hingerichtet wurde, während andere behaupten, und zwar mit großer Wahrscheinlichkeit, daß der Gifttrank aus dem Saft des Gefleckten Schierlings (conium maculatum) bestanden habe.

Auch ihm hat der Volksmund bezeichnende Namen gegeben; er heißt Bangekraut, Vogeltod, Wutschierling, Teufelspeterlein etc.

Er wächst an Wegen, an Zäunen und auf Feldern. Sein Stengel wird bis 1,5 Meter hoch, er ist aufrecht, kräftig, am Grunde über einen Finger dick. Im Inneren ist er hohl, außen zart gestreift mit einem bläulichen Hauche und in sehr wechselnder Weise mit roten bis rotbraunen Flecken bedeckt. Der Hauptunterschied zwischen ihm und anderen ihm ähnlichen Pflanzen ist der, daß der Fleckschierling in allen seinen Teilen glatt und völlig haarlos ist. Zerquetscht man dieses Kraut, so riecht es widerlich.

Auch bei dieser Pflanze fallen zumeist die Kinder ihrem Leichtsinn zum Opfer, und wir können uns nicht versagen, auch an dieser Stelle einen Vergiftungsfall zu erzählen, damit die Eltern daraus Warnung ziehen und zu der Ueberzeugung gelangen, daß die Belehrung der Kinder über giftige Pflanzen, daß die Einschärfung des Verbotes, an jedem Kraut zu kauen, an jeder beliebigen Wurzel zu nagen, nicht sorgsam genug zu befolgen ist.

Der kleine vierjährige Sohn eines Schmieds in einem Dorfe bei Selow hatte um fünf Uhr nachmittags von einem älteren Knaben geschabte Schierlingswurzeln erhalten und sie gegessen. Um sechs Uhr kam er nach Hause; sein Gesicht war rot, er sprach ohne Zusammenhang, sang und lachte, raufte sich in den Haaren, warf sich aus dem Bette und wälzte sich auf dem Boden herum. Dies dauerte bis 11 Uhr. Dann lag das Kind auf dem Rücken, schlug mit den Händen um sich und bewegte den Mund, als wenn es äße. Nach 3 Uhr nachts schien es zu schlummern, obgleich sich Krämpfe einstellten. Um 9 Uhr morgens lag es ganz still und um 10 Uhr starb es.

Aus älteren Zeiten werden noch merkwürdigere Beobachtungen gemeldet. Ein Weingärtner hatte von der Wurzel des Schierlings, die er für Pastinake hielt, mit seiner Frau zu Abend, obgleich nur wenig, gegessen. Beide gingen darauf zu Bett. Um Mitternacht erwachten sie, liefen wie Wahnsinnige umher und zerstießen sich das Gesicht. Ein Mönch hatte Schierling statt Petersilie gegessen und litt einige Monate lang an Tobsuchtsanfällen, andere wurden wahnsinnig und bildeten sich ein, Vogel oder Schlangen zu sein. Zwei Geistliche hatten Schierlingswurzeln mit Rindfleisch gegessen. Sie waren hungrig gewesen, in welchem Zustand jedes Gift am stärksten wirkt, und fühlten seine verderblichen Wirkungen auf der Stelle. Sie wurden wahnwitzig. Der eine hielt sich für eine Gans, der andere für eine Ente, beide rissen sich die Kleider vom Leibe und wollten sich ins Wasser stürzen. Man rettete sie durch Brech- und Schweißmittel, sie blieben aber gelähmt, behielten das Zittern, waren fast nie ohne Schmerzen und starben beide nach zwei Jahren.

Abgesehen von solchen vereinzelten Mitteilungen aus neuerer Zeit, besitzen wir über die Wirkungen des Schierlingsgiftes eine sehr eingehende Schilderung in dem Bericht vom Tode des Sokrates, den sein Schüler Plato uns im „Phaedon“ überliefert hat. Derselbe zeichnet sich durch eine seltene Genauigkeit der Beobachtung aus, so daß wir ihn in der Uebersetzung wiedergeben:

„Indessen äußerte Sokrates, nachdem er kurz vorher den Schierlingsbecher geleert, daß er bemerke, wie ihm die Beine schwer würden, und legte sich nieder in der Rückenlage, wie es ihm geraten worden war. Zu gleicher Zeit näherte sich ihm der Mann, der ihm das Gift gereicht hatte, und nachdem er einige Zeit seine Füße und Beine befühlt hatte, drückte er ihn kräftig am Fuße, zugleich ihn fragend, ob er es fühle.

Er antwortete: ‚Nein.‘

Er drückte ihn darauf an den Schenkeln und zeigte uns, mit den Händen höher hinaufgehend, wie der Körper kalt und steif wurde. Den Rumpf selbst berührend, sagte er uns, daß, wenn die Kälte bis an die Herzgegend reichen werde, Sokrates uns verlassen werde.

Schon war der ganze Unterleib kalt, da sagte Sokrates, die Decke zurückschlagend, denn er war zugedeckt: ‚Kriton‘ – und das waren seine letzten Worte – ‚wir schulden dem Aesculap einen Hahn. Vergiß nicht, die Schuld abzutragen!‘

‚Es soll geschehen,‘ antwortete Kriton, ‚aber siehe zu, ob Du uns noch etwas zu sagen hast.‘

Er antwortete nicht, und bald darauf hatte er einen Krampfanfall. Da deckte ihn der Mann ganz auf; seine Augen blickten starr. Kriton, dieses bemerkend, drückte ihm die Augen zu und entfernte sich.“

Es ist schon vor längerer Zeit gelungen, den eigentlichen Giftstoff des Gefleckten Schierlings rein darzustellen. Er ist wie Morphium, Nikotin etc. ein Alkaloid und bildet eine ölige, scharf riechende, in der Luft sich verflüchtigende Substanz. Nach den Gattungsnamen der Pflanze Conium wurde ihm der Name Coniin gegeben und man hat mit ihm vielfache Versuche an Menschen und Tieren angestellt. Die ersteren haben die Mediziner an sich selbst vorgenommen, indem sie kleine Mengen Coniins, 3 bis 85 Milligramm, einnahmen. Aus denselben geht hervor, daß das Gift in größeren Mengen die Bewegungsnerven lähmt und nach kurzer Erregung des Gehirns durch Lähmung der Atmung tötet.

Man hat zeitweilig versucht, das Coniin als Heilmittel anzuwenden, ist aber wegen der unsicheren und gefährlichen Wirkung davon abgekommen. Noch heute wird aber der Schierling namentlich auf dem Lande, wo das Selbstkurieren nach Regeln der dunklen Volksmedizin in Blüte steht, als Heilmittel gegen allerlei Gebrechen empfohlen. Vor diesem Unfug muß aufs dringendste gewarnt werden, denn es sind Fälle vorgekommen, wo schon durch äußeres

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_346.jpg&oldid=- (Version vom 6.3.2024)