Seite:Die Gartenlaube (1895) 355.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

der grause Fieberwahn sie selber an, kam eine Verwirrung über sie und eine unaussprechliche Ermüdung senkte sich in ihre Glieder.

O, wenn er gesund würde und wieder ins Leben schritte, der Fremdling, der ihr Herz in friedlose Unruhe gestürzt! – Wenn sie wieder fort könnte, fort auf den einsamen Weg, den sie betreten, und der sie erlösen sollte von dem Schmerz, an dem sie zusammengebrochen war! – O, wenn es zu Ende wäre mit dieser Qual, die ihre Sinne verwirrte und alle Kraft ihrer Seele und ihres Leibes zu Tode hetzte! Zu Ende – zu Ende!

– Großer Gott, habe Erbarmen mit mir! Erlöse mich von dieser Prüfung! – Kläre meinen Geist und schütze ihn vor dem Wahnsinn! Schirme meine weinenden Augen, daß sie nicht immer, immer jenes Antlitz vor sich sehen, das Du im Tode vergehen ließest! – Vergieb meinen dürstenden Lippen, daß sie den Gruß nicht vergessen können, den er von mir gewollt und den ich ihm versagte! – Wie konnt’ ich ihn versagen – dem Scheidenden – dem Sterbenden! – Gieb mir Frieden, Allmächtiger, Frieden – Frieden! –

Sie fürchtete sich, hinüberzusehen und eine stumme Bangigkeit zitterte durch die Stille des Krankenzimmers. Sie wurde größer an dem Schatten um sie her, an dem Stöhnen des Kranken, sie wuchs an dem bleichen Lichtschimmer, der über die Wand floß, an der großen Stille der Nacht, in der sie alles umher entschlafen wußte. Wie ein Flor senkte es sich über sie herab, ein Flor, den die Atemzüge der Nacht hoben und senkten, der um sie wallte und schwebte durch das stille Zimmer, an die Decke und hinaus über Feld und Wald, hinaus über den langen Weg ihres Lebens.

Am Bette des Kranken stand der Tod. Er legte seine eisige Hand mit hartem Griff auf die schwer atmende Brust und drückte den besiegten Leib in die Kissen nieder. In schwankenden Delirien wollte der Geist durch unermeßliche Räume fliegen und stieß mit dem schwachen Rest verbleichenden Bewußtseins an Decke und Wände, wie ein gehetzter Vogel, der im Kerker nach Freiheit flattert.

Und dann wieder schwebten sonnige Bilder auf sein Lager herab, goldflimmernde Träume und seliger Friede. Sein Dasein wollte sich auflösen in die Unendlichkeit. Ein tiefer Seufzer, ein abgerissenes Wort, wie eine Bitte, ein Ruf brach von seinen zuckenden Lippen.

Die Schwester fuhr betäubt empor. Mit frostigem Angstgefühl umschloß die Einsamkeit der Nacht ihre Brust. Der flackernde Blick des Kranken zog sie an seine Seite.

Und der Blick glänzte und leuchtete unter den weit aufgeschlagenen Lidern. Die Lippen öffneten sich ein wenig, es flog über das bleiche Angesicht fast wie ein freudiger Schimmer, der Widerschein von der Lichtgestalt, die er vor sich sah. Er sah ihn wieder, den Boten des Trostes, den namenlosen Engel der Ruhe und Rettung. In einer Lichtwolke stand, hochaufgerichtet, die silberweiße Gestalt. Ein wogender Schleier schwamm um sie, über ihren Kopf und von ihrem Nacken. Das schöne Antlitz war nach ihm gerichtet und die großen göttlichen Augen tauchten mit ihrem Glanz tief in seine Seele. Und sie lächelte sanft mit den himmlischen Augen und nickte mit der blendend weißen Stirne, und streckte den glänzenden Arm nach ihm und winkte ihm. Er richtete sich langsam auf, als hätte sie ihn berührt mit einem Zauberstabe. Eine namenlose Sehnsucht quoll durch seine Brust. Er streckte die zitternden Hände nach ihr und breitete schwer atmend die Arme aus – –

Ihrer selbst nicht mehr mächtig, beugte sich Schwester Brigitte zu ihm nieder. Sie umschlang ihn mit beiden Armen, verwirrt, betäubt, drückte seinen Kopf an ihre Brust und rückte seine Stirne zurück. Durch den Schleier hervorstürzender Thränen suchte ihr Auge seinen bleichen Mund, und ihre Lippen berührten die seinen.

Ein Schauer rieselte durch ihre Glieder, als tropfte Eis in ihren Adern. Gelähmt, halb ohnmächtig ließ sie ihn aus ihren Armen gleiten und sank neben dem Bette zu Boden. –

*  *  *

Die Nacht rann weiter.

Als Frau Stübel kam, fand sie die Schwester in schwerer Sorge. Die Kräfte des Verwundeten verfielen unter ihren Augen. Sein Atem pfiff über die fahlen Lippen. Die Wangen waren eingesunken, und ihre Blässe schimmerte bläulich. Sie tastete mit unsicheren Fingern nach dem schwachen Pulsschlage und schüttelte den Kopf auf Frau Stübels Frage, wie es gehe.

„Es geht zu Ende,“ sagte sie leise.

„Nicht doch, lieber Gott! – Nicht doch! Es wird wieder besser werden.“ Und als machte sie Schwester Brigittes eigenes Wesen plötzlich betroffen, setzte sie hinzu: „Sie sind so müde, so angegriffen. Ich kenne mich ja soweit aus. Sie müssen sich etwas Ruhe gönnen. Lassen Sie mich nun hier, nur eine kurze Zeit!“

„Nein, nein – nicht mehr!“

„Nur eine kurze Stunde!“

Schwester Brigitte antwortete nicht gleich. Sie atmete tief auf und sagte dann: „Keine Stunde – nur wenige Minuten. Ich kehre sofort wieder!“

Sie ging in ihr Zimmer, wandte sich zum Fenster, stieß die Läden zurück und beugte sich hinaus.

Tausend Sterne flimmerten im tiefen Blau des Nachthimmels. Sie schaute zu ihnen empor und in ihren Augen leuchtete es wie Verklärung. Ihre schlanke Gestalt reckte sich hoch auf, als sei sie gehoben vom Schwunge der Seele, in ihrer Sehnsucht nach himmlischer Höhe. So stand ihr Bild da wie von geheimnisvoller Weihe umflossen, und durch die schimmernde Nacht hauchte ein heiliger Friede zu ihr.

Es pochte hastig an die Thüre.

„Ich komme!“ rief Schwester Brigitte. Sie stand im Augenblicke draußen.

Frau Stübel trat ihr bestürzt entgegen.

„Es geht ihm so schlecht – ich kenne mich nun doch nicht recht aus –“

Die Schwester war ihr schon vorangeeilt.

Sie hörte schon im Vorsaale das schwere, laute Röcheln des Sterbenden.

Als sie auf die Schwelle trat, stieß er einen Seufzer aus, so tief und schmerzlich, als hätte seine Brust den Rest all ihrer Kraft darin gesammelt. Sein Kopf sank nach rückwärts in die Kissen und sein Kinn fiel kraftlos herab. Leise wischte die Schwester den kalten Schweiß von den verfallenen Wangen. Dann hielt sie eine Weile die Rechte über seine Augen und richtete sich endlich auf.

„Er hat ausgelitteu –“

Im Osten graute der Tag. Durch das offene Fenster wehte die Morgenluft und spielte mit den zitternden Kerzenflammen. Im Zimmer regte sich kein Laut. Frau Stübel fuhr sich ab und zu leise schluchzend über die Augen, während sie neben der Schwester stand, die gesenkten Hauptes ein stummes Gebet sprach.

*  *  *

Wenige Tage darauf wurde Schwester Brigitte abgerufen. Eine lange Fahrt stand ihr bevor, erst im Wagen, dann mit der Bahn, soweit diese noch befahren werden konnte, hinüber an die Grenze.

An einem kühlen Morgen, ehe die Sonne noch heraufgekommen hinter den Waldhügeln, verließ sie mit einer älteren Schwester im offenen Wagen die Stadt. Sie hatten das Wagendach der schneidenden Morgenluft wegen aufgeschlagen, und müde und schweigend saßen die beiden Frauen in die Ecken gedrückt.

Die Chaussee hinaus ging es vorbei an dem Landhaus, in welchem sie den Verstorbenen gepflegt und das mit geschlossenen Läden dalag, schlummernd in der friedlichen Morgenfrühe. Schwester Brigitte drückte die Hand aufs Gesicht und schloß die Augen.

Weiter draußen ermunterte sich ihre Reisegefährtin. Es war eine ältliche, untersetzte Person, deren freundliches Gesicht rosig unter der schneeweißen Haube hervorsah und in deren hellgrauen Augen ein resoluter Lebensmut blitzte.

Sie fuhreu entlang der verwüsteten Felder, draußen wo der Kampf getobt.

„Lieber Gott – wie es hier aussieht!“ sagte die Aeltere. „Der ganze Erntesegen vernichtet, in Boden gestampft! Warum können die Menschen nicht Frieden halten?“

Und als Schwester Brigitte nichts erwiderte, führte sie verstohlen ein Prischen zur Nase und sagte tröstlich:

„Unser Herr, der es gegeben, wird ja die Halme wieder sprießen lassen. Gras wächst über alles. Aber die Menschen, die Menschen! – Wie soll der gnädige Herrgott die vielen Wunden heilen!“

Die andere, ihre junge Schwester, preßte im Schutz des faltigen Gewandes die Hand fest aufs Herz und senkte schweigend ihr bleiches Antlitz tief auf die Brust herab.




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_355.jpg&oldid=- (Version vom 15.2.2022)