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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Ja, ja, ja! dachte Volkmar, auf die drei jungen Mädchen hinuntersehend, die drüben, lange blonde Zöpfe auf dem Rücken, mit ihren Schlittschuhen am Arm zum Fluß hinabgingen; sie hatten zu ihm in die Höhe geblickt, es mußte ihnen etwas an ihm aufgefallen sein. Sie blieben eine Weile stehen, lächelten, flüsterten. Dann zogen sie sich gegenseitig an den Armen, schwenkten sich ein wenig hin und her und zogen weiter, auf den Hafen zu. Ja, ja, ja! dachte er, ihr fidelen Dinger, die ihr euch noch so gern verwundert und die Köpfe zusammensteckt und tuschelt und huschelt: das wißt ihr noch nicht, was das heißt, wenn man so achtzehn, neunzehn Jahre ein Liebstes hat aufblühen sehen, und hat als Gärtner dabeigestanden, mit großen Augen und mit großem Herzen und nun wandert die Blume fort, man hat sie verkauft, an die „Welt“. Wenn man so einem Wesen Vater und Mutter war, seit der Mutter Tod. ...

Er biß die Zähne zusammen und studierte das zarte Blau des wolkenfreien Himmels, in dem ein Abglanz des Erdschnees mitzuleuchten schien. Die Sonne lockte so schön, wie wenn sie ihn zu trösten suchte. Nichts liebte Volkmar mehr als die Wintermittagssonne, da ist sie der richtige Freund, da wärmt sie einem so recht das Herz, ohne zudringlich oder schroff oder ermüdend zu werden, wie wohl im Sommer auch sie es, gleich anderen Freunden, thut. Sollt’ ich nicht hinausgehn? sagte er zu sich, gegen die Fensterscheibe sprechend. Rudolf kommt nicht. Er wird über den Wall zum Fluß gegangen sein, Schlittschuh zu laufen. Wenn ich ihn dort träfe? ihm bei seinen Künsten wieder einmal zusähe? Vielleicht schon zum letztenmal? – Er blickte mit einer Art von Lächeln auf den trüben Dunstkreis, den seine Worte auf die kalte Scheibe hingeatmet hatten. Dann wandte er sich, warf noch einen Blick durch Rudolfs Zimmer, einen kopfschüttelnden, vorausleidenden, nahm auf dem Vorplatz Mantel und Hut und ging die Treppe hinab.

Die Straße endete bald auf den großen Hafen, der sich an dem fast seebreiten Fluß entlang zieht, nicht mehr weit vom Meer; doch man sieht es nicht, da der Fluß sich krümmt. Am Bollwerk, auch an der nächsten Anlegebrücke lag eine lange Reihe von Schiffen, Dampfer und Segler. Sie ruhten aber alle in der „Winterlage“, im Eis, denn der Fluß stand fest, bis zur See hinunter. Das Tauwerk der Segelschiffe, besonders oben von Mast zu Mast, war weiß, ganz mit Reif umsponnen, nur hier und da hatte die saugende Sonne schon dunkel hineingefärbt. Weiß war auch der Fluß, so weit man ihn sah: es war mehrmals Schnee gefallen, nachdem er sich mit Eis bedeckt hatte. Die wintermüßigen Seeleute hatten aber Bahnen gefegt, für die Schlittschuhläufer; eine zum jenseitigen Ufer, andere in der Mitte flußauf und flußab. Volkmar sah viele große und kleine Gestalten auf diesen Bahnen entlang schweben am Ufer, wo die Hauptbahn begann, standen lange Bänke, zum An- und Abschnallen, daneben die dienstbereiten Seeleute, einer mit der Kasse. Er grüßte sie – sie kannten ihn alle, da der Hafen seine Frühlings-, Sommer- und Winterfrische war – warf sein Geldstück in die klingende Kasse und ging auf der nicht sehr glatten Bahn dem anderen Ufer zu.

Eine Weile sah er fast nichts als Kinder vor sich, glitschend oder laufend oder schlittenfahrend; nach seinem schlanken Sohn spähte er umsonst. Auf einem winzigen Schlitten zogen drei kleine Leute vor ihm her: zwei Mädchen, wie große Puppen, ganz eingemummt, saßen hinter einander, eng zusammengedrückt; hinter ihnen der „Steuermann“, ein rotbäckiges Bübchen mit mächtigen Fausthandschuhen, das auf dem Schlitten so wenig Platz hatte, daß es seitwärts knieen mußte, während es sein Fahrzeug mit der ins Eis hauenden Pike vorwärtstrieb. Dabei glitt es denn auch von Zeit zu Zeit auf das Eis hinunter, die Pike fiel ihm aus der Hand, größer als sein Schicksal rutschte aber das Püppchen auf den Knieen hinter der Pike her, fing sie auf, zog mit ihr den Schlitten heran, stieg wieder quer auf und fuhr knieend weiter. Seine kleinen Damen hatten inzwischen wie wirkliche Puppen regungslos gesessen ohne zu merken, was hinter ihnen geschah; als wären sie in der Kälte erstarrt und lebten nur noch ein wenig durch die Sonnenstrahlen, die hinter ihnen her zogen. Sie wareu so still wie die Krähen, die in langer Reihe vor einer Schneewehe hockten, alle das Gesicht zur Sonne gekehrt, sich mit bewegungsloser Andacht wärmend, nur eine, als wäre sie der Hauptmann der Schar, ging mit großen, langsamen, lächerlich majestätischen Schritten an der Front entlang.

Volkmar betrachtete diese drollige Versammlung; plötzlich rief ihn eine helle, kräftige Stimme an: Onkel Albert! Du hier? – Er wandte sich und sah in ihrem lichtgrauen Mantel die schlanke, dreizehnjährige Toni, seine Nichte, die auf ihren Schlittschuhen von einer der Querbahnen herangekommen war. Blutsverwandte Nichte war sie eigentlich nicht: seiner Schwester Mann hatte sie aus der ersten Ehe in die zweite mitgebracht. Vaterlos geworden, lebte sie nun mit der Stiefmutter (als zärtlich verhätscheltes Kind) unter Volkmars Dach, im alten „Familienhaus“. Sie war mit ihren dreizehn Jahren schon eine lange Pflanze, schlank und wohlgebaut; ihr Kindergesicht ging eben in den „Backfisch“ über. Es leuchtete von frischer, ganz eigentümlich goldig bräunlicher Gesundheit, das Dahinsausen in der scharfen Kälte hatte ihr jetzt die Wangen gerötet. Mit noch etwas ungeschicktem Uebermut lief sie grade auf den Oheim zu, wollte knapp vor ihm anhalten, kam aber nicht mehr zum Stehen und fiel ihm fast an die Brust; es gelang ihm, sie festzuhalten, ohne daß er selber zu Fall kam.

Unband! sagte er, ihr die blühende Wange streichelnd. Ich such’ hier meinen Jungen. Hast Du ihn gesehen?

Sie nickte stumm und deutete mit dem Kopf hinter sich nach Westen. Das kluge Gesicht nahm einen andern, frühreif schwärmerischen Ausdruck an, der ihn überraschte, ergötzte. Nach einer Art von Seufzer, der die kleine Brust hob, setzte sie hinzu: Er läuft da hinten, mit ihr.

Mit wem? fragte Albert Volkmar.

Mit der Himmlischen!

Mit der Himmlischen?

Na ja. Mit der Süßen!

Die kenn’ ich nicht. Wer ist das?

Thea Schüler, die Schauspielerin. O Onkel, Onkel! Weißt Du denn nichts von Thea Schüler? Lebst Du wie ’n Murmeltier? – Thea, die Himmlische!

Volkmar war dem Lachen nahe, so verzückt sah ihn der Backfisch an; er machte aber doch ein sonderbares, kritisches Gesicht. O ja, sagte er langsam, ich weiß wohl von ihr, gesehn hab’ ich sie noch nicht. Mit der läuft mein Rudolf? Wie kommt er dazu?

Ich beneid’ ihn, Onkel, antwortete die Kleine mit den guten hraunen Augen; ich beneid’ ihn wütend! Sie soll von ihm Bogenlaufen lernen. Denn eigentlich kann sie noch nichts, auch nicht mehr als ich. Aher alles steht ihr so gut .... Auch wenn sie mit dem Schlittschuh hinten ausschlägt; denn sie ist so –

Himmlisch, ergänzte Volkmar. Aber wie kommt denn Rudolf zu ihr?

Durch einen Referendar und durch einen Lieutenant, die haben ihn ihr vorgestellt, und sie hat zu ihm gesagt: „Sie laufen ja wie ein Gott!“ – Du, das thut er auch. Er kann mehr Kunststücke als all’ die andern, und wie kann er Bogen sausen! – Aber der Referendar, der ist kulig; der –

Was ist der Referendar? fragte Volkmar, ihr in den Geschwindmarsch ihrer Rede fallend.

Kulig ist er, Onkel.

Um Vergebung! Was heißt das?

Ja, wenn Du das nicht kennst – ! – Das kann man nicht gut beschreiben, Onkel. Meine Freundinnen und ich, wir sagen immer „kulig“. Wenn zum Beispiel einer – Sie stockte.

Nun? Wenn einer was?

Na zum Beispiel wie der Kaufmann Marten; der sich immer so hat; „das wollen wir schon machen, mein Fräulein“, „das wird wohl gelingen“. Kulig, na, das ist, wenn man bei allem so wichtig thut – und sich so zierlich macht – und so süß. Aber nicht süß wie Thea, sondern –

Sondern eben kulig, ergänzte der Oheim. Ich verstehe schon. Nun möcht’ ich aber doch einmal zusehn, wenn Rudolf mit dieser Thea –

Er wandte sich der Querbahn zu, die flußabwärts führte. Auf dieser Bahn lief eben ein zweites junges Fräulein heran, etwa ein Jahr älter als Toni, aber eher kleiner als größer, eine zierliche, wenn auch noch unreife Gestalt mit leuchtender Blondinenhaut und gar feinem Näschen. Er erkannte sie sogleich, es war Tonis beste Freundin Helene, die „poetische“, wie er sie im Scherz wohl nannte. Heute sah sie wirklich so aus: auf dem rundlichen Gesicht lag eine ähnliche, drollig aufgeregte Verklärung wie auf Tonis „Tollkopf“; nur verhaltener, etwas mehr bemüht, sich zu verschließen.

Helene! rief er sie an. Du kommst ja von da unten her. Hast Du meinen Rudolf gesehn?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_450.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2021)