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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Welches Hotel befehlen Sie?“ fragt er, ihre Handtasche nehmend.

„Hotel? Ich will zu Joachim!“ schreit sie fast.

„Er ist nicht in der Lage, Aufregungen ertragen zu können, liebe Sophie,“ stottert Bredow. „Eine Graue Schwester ist bei ihm –“

Sie bleibt stehen mitten in der Billethalle des Bahnhofes. „Barmherziger Gott,“ bittet sie, „foltern Sie mich doch nicht so – was ist’s denn mit ihm?“

„Ich will Ihnen sofort Erklärung geben, Sophie, aber nicht hier. Wenn Sie es denn wünschen, kommen Sie zunächst in unser Haus.“

Nach einer Viertelstunde befindet sich Ditscha in Cillys Salon, in welchem eine einzige Gasflamme am Lüster brennt und der in ihrer furchtbaren Angst erstickend auf sie wirkt mit all dem modernen Tand, den Cilly so liebt. Sie ist in einen Sessel gesunken und starrt den Mann an, der sich seines Ueberziehers entledigt und, während er sich die Handschuhe auszieht, pedantisch und leise beginnt: „Die Sache ist die, liebe Sophie – er hat ein Duell gehabt – die Affaire ging unglücklich für ihn aus – er bekam einen Schuß in die Lunge – –“

„Ein Duell?“ fragt sie tonlos und faßt die Lehne des Sessels. „Mit wem? Wieso? Erklären Sie doch!“

„Das ist eine etwas umständliche Geschichte, die mir selbst nicht völlig klar wurde, liebe Sophie. Er hat einen Amerikaner gefordert, der hier in demselben Hause mit uns wohnt, einen Mister Perth. – Ich glaube, unser armer Junge hat sich in die Tochter vergafft, wie’s scheint, ganz ernstlich. Wir dachten übrigens nichts Arges, Cilly amüsierte sich sogar immer königlich über seine Huldigungen, ohne zu thun, als ob sie es bemerke. Wer konnte denn auch denken – hm –, denn – hm – wir verkehrten nicht ’mal – Leute gänzlich unbekannter Sphäre – – Nun glaube ich, wollte er sich auf Ihren Rat, liebe Sophie, der ja auch durchaus richtig ist, zurückziehen – da ist man unangenehm geworden und Madame hat einen ganz impertinenten Ausfall gegen Sie, Sie – liebe Sophie – unternommen. Natürlicherweise konnte Achim das nicht – hm – – Na, wir ahnen nichts – gegen zwei Uhr gestern kommt das alte Waschweib, Mistreß Perth, wie eine Furie herauf, verlangt Cilly zu sprechen und lamentiert schrecklich, schiebt alle Schuld auf Sie, behauptet, Sie von früher zu kennen, und so manches andere. Und seitdem ist Cilly, ich muß es mit Bedauern sagen, in sehr gereizter Stimmung gegen Sie, liebe Sophie, so daß ich es für geratener halte, ihr nicht in den Weg zu kommen. Entschuldigen Sie – mit einer Mutter darf man, angesichts ihres leidenden Kindes, nicht zu genau rechnen.“

Ditscha sitzt während dieser Rede da mit schmerzverzogenem Gesicht, die gefalteten Hände an die Lippen gepreßt, als wolle sie einen Aufschrei zurückdrängen. Nun springt sie empor. „Lassen Sie mich zu ihm – lassen Sie mich bei ihm bleiben!“

In diesem Augenblick öffnet sich die Thür und Cilly, mit vom Weinen verschwollenem Gesicht, ein loses Morgenkleid über ihre kleine korpulente Figur geworfen, kommt herein. Als sie Ditscha erblickt, wendet sie sich ab und will gehen.

„Cilly!“ ruft das Mädchen, „sei barmherzig, laß mich zu ihm, sage doch mir – –“

„Niemals!“ schallt es zurück, „denn Du bist schuld – um Deinetwillen stirbt er! Ein Unglück ist’s, so eine, wie Du, in der Familie zu haben, das sage ich Dir ganz frei heraus in dieser Stunde!“

„So sprich doch, was verbrach ich denn?“ ruft Ditscha.

„Er hat diesen Menschen, diesen Mörder, gefordert, weil – weil er renommierte, früher zu Dir in Beziehungen gestanden zu haben – was leider wahr ist, denn der erbärmliche Patron ist ja der Perthien, mit dem Du damals flüchten wolltest – o, Du denkst, ich kenne diese Geschichte nicht? Tante Anna hat sie mir erzählt; sie hat Dich nie leiden können seitdem. Und Dein Bruder – Dein Bruder geht daran zu Grunde!“

Ditscha greift plötzlich mit beiden Händen an die Stirn und lacht kurz, wie ungläubig, auf. „Perthien?“ sagt sie mit schwerer Zunge – „Perthien?“ Dann bricht sie zusammen. –

Die Graue Schwester hat sich um sie bemüht; sie ist nach langer Ohnmacht wieder zu sich gekommen.

„Muß er sterben, Schwester?“ fragt sie.

„Er ist sehr krank, aber Gottes Gnade ist groß,“ antwortet diese.

„Lassen Sie mich zu ihm, lassen Sie mich!“ fleht sie, „wir haben uns so lieb, Schwester – ich will nichts weiter als seine Hand halten –“

Das gute Gesicht der Pflegerin wird verlegen. „Ach, gnädiges Fräulein, es geht nicht,“ sagt sie, „er darf nicht aufgeregt werden, er – –“

„Aber vor der Thüre lassen Sie mich sitzen, Schwester,“ fordert sie fast schreiend. „Sie wissen nicht, was Sie thun, wenn Sie mich fortgehen heißen – ach, Sie wissen es nicht –!“

Und Ditscha hockt vor der Thür, stundenlang, tagelang, nächtelang. Cilly hört das Schluchzen drinnen am Krankenbette, an dem sie mit der Schwester wacht; sie möchte verzagen, aber was soll sie machen, sie kann doch nicht die Verzweifelnde fortjagen wie einen Hund!

Tage vergehen, Tage, in denen Tod und Leben miteinander ringen. Die Barmherzige Schwester hat schließlich für Ditscha ein Bett in jenes Zimmer stellen lassen, das Stubenmädchen sorgt für Speise und Trank, so gut es geht. Wie es daheim aussieht, daran denkt Ditscha nicht, nur daß der alte Mann nichts erfährt, darum ist sie besorgt. Sie hat an Rothe telegraphiert, er solle sich seiner annehmen. Daß sie von dem Manne, der sie geliebt, eine große Gefälligkeit verlangt, wie man sie nur von einer ganz nahestehenden Person fordern würde, ist ihr nicht klar. Wer fragt danach in solchen Momenten!

Langsam, sehr langsam kommt das erste Hoffnungszeichen. Cilly, die sich gebärdet, als sei sie ihr Leben lang die aufopferndste Mutter gewesen, überläßt zum erstenmal die Nachtwache der Pflegerin und zieht sich in ihr eignes Schlafzimmer zurück. Schwester Josepha mit den freundlichen dunklen Augen, die nun am Bette des Kranken sitzt, läßt auf Ditschas Bitten die Thüre einen Spalt weit offen; Ditscha kann sein Lager sehen, das blasse abgezehrte Antlitz ihres Lieblings. Sie schluchzt leise auf, sie hat es nicht unterdrücken können; nun preßt sie das Tuch an den Mund, denn der Kranke hat den Kopf gewendet.

„Wer war das?“ fragt er matt.

Die Wärterin schüttelt den Kopf.

„Es ist meine Schwester,“ sagt er, „sie soll hereinkommen.“

„Es ist niemand hier,“ wehrt die Pflegerin.

„Es ist meine Schwester, sie soll kommen!“ beharrt er.

Die Pflegerin, die keine Ahnung von den Verhältnissen hat, tritt heraus. „Recht ruhig sein, gnädiges Fräulein, um Gotteswillen ja nicht weinen,“ flüstert sie.

Und Ditscha schwankt an sein Bett. Sie sieht sich kaum noch ähnlich, so haben Angst und Gram sie verändert. Sie beugt sich hernieder, sie will ihn küssen, nur die Hand, die auf der Decke ruht; sie wagt nicht zu schluchzen, aber die Thränen rinnen ihr langsam über das vergrämte Gesicht. Er wehrt hastig ihrem Kuß, und seine Augen bohren sich in die ihren mit einem fremden kalten Blick, den sie noch nicht begreift.

„Ist es wahr?“ fragt er.

„Was denn, mein lieber Jung’?“ flüstert sie, halb erstickt von Thränen.

„Das, was der da unten behauptete und was Mama bestätigt.“

Sie sieht ihn starr an, getroffen bis ins innerste Herz.

„Ich werde ruhiger werden, wenn Du mir sagst, daß sie lügen, Ditscha.“

„Herr Baron!“ ermähnt die Schwester besorgt.

„Sag’ nur Ja! oder Nein!“ fordert er erregt.

Ditscha antwortet nicht. Sie macht eine Gebärde, hebt ein wenig ihre Arme vom Körper ab und läßt sie wieder sinken; ein völliges Gebrochensein spricht aus dieser zustimmenden Bewegung.

„Also – wahr?“ sagt er.

Sie bleibt ohne Regung.

Da wendet er den Kopf von ihr ab und schweigt.

„Achim!“ flüstert sie heiser.

Er rührt sich nicht.

Die Schwester faßt sie um den Leib und will sie hinausführen.

„Achim!“ stößt sie laut hervor, „sag’, daß ich bei Dir bleiben darf – um Gotteswillen!“

Keine Antwort.

„Achim!“ schreit sie noch einmal.

Die Schwester zerrt sie jetzt fast gewaltsam über die Schwelle und läßt sie in einen Stuhl sinken. „Beruhigen Sie sich doch,“ bittet sie, „Kranke sind wunderlich!“

Aber Ditscha kennt ihn besser, sie weiß, er verachtet sie – – –

Als Cilly am andern Morgen durch Ditschas Zimmer geht, ist sie verwundert, dieselbe nicht zu sehen. Sie fragt nach ihr.

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