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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Sonnenaufgang auf dem „Esel“.

„Das müssen wir der Mama unbedingt schreiben,“ ruft ein Backfisch dem andern zu, „und den Verwandten müssen wir schreiben, Aga, Postkarten mit Ansicht müssen wir haben. Wenn ich nur eine passende Strophe wüßte, man sagt dergleichen doch nicht in Prosa. Aber es ist entsetzlich! – Ich finde keinen Reim auf Gipfel – ‚Wipfel‘ geht nicht wegen Baummangel, und ‚Zipfel‘ – etwa ‚und der Buchten grüne Zipfel‘ – nein, das Wort ist abscheulich!“

Da kommt Alpengigerl zu Hilfe, er ist der Retter, das Gedicht entsteht. Es wird nicht besser, nicht schlechter sein als die Tausende, die Sommer um Sommer in die Welt fliegen. Amateurphotographen arbeiten im Schweiße ihres Angesichtes, um die ganze Gebirgsherrlichkeit in die Rocktasche stecken zu können, andere helfen sich etwas altväterisch mit Skizzenbüchern, und wer nicht zeichnen kann, der schlägt einen Stein los, klebt eine Etiquette „Pilatus“ darauf und schafft sich so ein Andenken.

Ein neuer Zug hat eine große Schar Gäste gebracht, Engländer, Amerikaner und Franzosen, darunter ein Paar reizende Pariserinnen, die mit ihrer Lebhaftigkeit und ihrem koketten Französisch Aufsehen erregen. Sie haben nur einen Schmerz: daß auf dem Pilatus auch deutsch gesprochen wird. Sie haben ein paar Bernern zugehört und sind nun überzeugt, daß bloß Preußen eine so schändliche Sprache sprechen.

Ankunft des Zuges in Alpnachstad.

Wir entwinden uns dem Gewühl, wir machen einen Spaziergang nach dem Tomlishorn, dem höchsten Gipfel des Berges. Ein in die Felsen gesprengter, fast ebener Weg führt am Oberhaupt, dem mittleren der drei Pilatusgipfel, die man von Luzern aus sieht, und am „Chriesiloch“, jener natürlichen Felshöhle, vorbei, durch die auf steiler Holztreppe der alte Pilatusweg nach dem Klimsenhorn und Hergiswyl hinunterführt. Das „Chriesiloch“, schriftdeutsch „Kirschenloch“, soll seinen Namen davon tragen, daß in alter Zeit die Alpendohlen soviel Steine von gestohlenen Kirschen hier angehäuft hätten, daß die Steine den Durchgang sperrten. Jetzt ist die Alpendohle am Pilatus nicht mehr so häufig, aber immer ist

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 509. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_509.jpg&oldid=- (Version vom 9.2.2023)