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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

heiligen Kampf ziehe, wie Ihr anderen alle, wenn ich auch keinen so kräftigen und abgehärteten Körper besitze?“ Bei mir regte sich das Gewissen, daß ich mich durch die Vorstellungen des Feldwebels hatte verleiten lassen, den armen Menschen wohl gar zu schnöde zu behandeln, und ich nahm mir vor, es wieder gut zu machen. Augenblicklich aber gab ich ihm mit den Worten: „Schön, dann muß es also dabei bleiben. Ich danke Ihnen!“ das Zeichen, wieder einzutreten. Zögernd blieb er jedoch stehen und fragte mit leiser, bescheidener Stimme: „Sie werden wich also nicht zum Ersatzbataillon versetzen lassen, Herr Lieutenant?“

„Davon kann keine Rede mehr sein. Außerdem stünde das auch nicht in meiner Macht!“ gab ich lachend zur Antwort, worauf er mit einem „Ich danke Ihnen von Herzen, Herr Lieutenant!“ „Gewehr auf“ nahm und auf seinen Platz zurückging.

„Und s’ ist doch ein Drückeberger,“ brummte der Feldwebel auf meinen fragenden Blick unwirsch vor sich hin.

Damit war für jetzt die Sache erledigt, denn soeben kam der Befehl, die Compagnien zu entlassen. Die Leute sollten sich später am Abend auf der Kasernenwache erkundigen, wann morgen früh ausgerückt werde.

Und nun wurde der Kasernenhof zum Schauplatz einer patriotischen Kundgebung, wie er sie annähernd großartig noch nie erlebt und wohl auch so leicht nicht wieder erleben wird. Kaum war das Kommando „Weggetreten!“ gegeben, so hatten sich unsere Compagnien auch schon in dem hereinflutenden Menschenstrom aufgelöst und die Mannschaften tauchten in demselben unter. Einzeln, gruppenweise trieben sie in der jubelnden, erregten und begeisterten Menschenmenge, sich von ihr tragen und führen lassend. Das waren Scenen des edelsten, reinsten vaterländischen Enthusiasmus, die sich dort vor meinen Augen abspielten und einen so nachhaltigen Eindruck auf mein empfängliches Jünglingsgemüt machten, daß ich sie heute noch deutlich vor meinem geistigen Auge sehe. Zwar eilten noch manche unserer Soldaten auf die Stuben, um rasch ihr Gepäck abzulegen, doch die meisten schlossen sich wie sie gingen und standen, mit ihren Freunden an und unter dem tausendstimmigen Gesang der „Wacht am Rhein“ wogten die dichten Scharen unter der Terrasse des Offizierskasinos vorbei, den dort inmitten seiner Offiziere stehenden Oberst mit lautem Hurra begrüßend.

Kurz nach neun Uhr am Abend war dann endlich die lange erwartete Depesche eingetroffen und wie ein Lauffeuer durcheilte die Nachricht die ganze Stadt: heute nacht ein Uhr stehen die Compagnien auf dem Kasernenhof zum Ausrücken bereit!

In dieser Nacht blieb die ganze Bevölkerung der Stadt auf den Beinen. Auch die Bewohner der Ortschaften in weitem Umkreis waren am Sonntage hereingekommen und nur wenige mögen wieder nach Hause gegangen sein; wollte doch jeder, der es nur möglich machen konnte, beim Aufmarsch des ersten Regimentes nach der bedrohten Grenze zugegen sein. Alle Gassen und Gäßchen waren angefüllt von begeisterten Menschen und immer mehr drängten sich die Massen zusammen, je näher man dem Schillerplatz und der Kaserne kam und je mehr die Zeit des Abmarsches heranrückte. Die Folge war, daß die zum Sammelplatz eilenden Soldaten nur langsam hindurchzudringen vermochten. Auch der Kasernenhof war so dicht besetzt von den Angehörigen und Freunden der Ausrückenden, daß das Sammeln der Compagnien sich als ungemein schwierig erwies.

Noch war die kurze Sommernacht nicht in die Morgendämmerung übergegangen, doch flammten überall im Publikum Fackeln und Laternen auf, sämtliche Fenster waren erleuchtet und immer wieder erklang die Wacht am Rhein und übertönte die Kommandos. Wir waren bald zu der Ueberzeugung gelangt, daß ein Verlesen und Stellen der Compagnien unter diesen Umständen zu den direkten Unmöglichkeiten zählte, und beschränkten uns daher darauf, so gut wie möglich die Ordnung in den Zügen herzustellen.

Wenige Minuten vor zwei Uhr schlugen die Spielleute an, die Regimentsmusik intonierte wieder das Kampflied der damaligen Zeit, tausendstimmig fiel alles ein und – gekeilt in drangvoll fürchterlicher Enge wurde unsere Marschkolonne durch die schmale Gaugasse und den noch schmäleren Durchlaß des Gauthores zur Festung mehr hinausgeschoben und getragen, als daß wir hinausmarschiert wären. Draußen vermochten wir wieder aufzuatmen, denn die uns begleitenden Scharen lichteten sich immer mehr und blieben endlich ganz zurück; aber noch über eine Stunde setzten wir unseren Marsch fort, bis wir endlich, als es schon ganz heller Tag geworden und die Türme von Mainz längst unseren Blicken entschwunden waren, das erste „Rendezvous“ machten.

Der nun folgende lange Halt wurde dazu benutzt, alles das nachzuholen, was auf dem Kasernenhofe hatte unterbleiben müssen. Selbstverständlich hatten sich Leute aller Compagnien verlaufen, die zunächst ausgetauscht werden mußten. Doch als sodann verlesen wurde, stellte es sich heraus – wer beschreibt das Entsetzen unseres Feldwebels – daß bei uns fünf Mann fehlten. „Darunter natürlich der Gefreite Tilmanns!“ meldete der ganz Fassungslose unserem Premier. Zu seinem Trost erfuhr er aber, daß es den anderen Compagnien nicht besser ging, wenn auch wir die meisten Ausbleiber hatten.

„Die Leute werden sich schon sämtlich einstellen,“ hatte der Oberst gesagt, als ihm die Sache gemeldet worden war. „Wenn sie im Laufe des heutigen Tages nachkommen, so wollen wir für diesmal stillschweigend darüber hinwegsehen. Einstweilen können wir noch auf die Nachzügler warten, vielleicht trifft noch einer oder der andere ein. Ganz ausbleiben wird keiner, denk’ ich!“

Und er sollte schon bald recht bekommen. Die Sonne war inzwischen längst aufgegangen, aber so weit wir sehen konnten, war anf der Landstraße kein Soldat zu erblicken. Eben noch hatte der Feldwebel Schmidt seiner Entrüstung mit den ingrimmigen Worten Luft gemacht: „Es ist unerhört, wie die Kerls so sans façon vom Ausrücken wegbleiben können. Aber, wenn einer nicht mitkäme, daß das unser Drückeberger sein würde, das habe ich gestern schon gesagt!“ Als Antwort machte ich ihn auf eine Staubwolke aufmerksam, die sich uns rasch näherte, und bald konnten wir einen stattlichen Zug Wagen, Omnibusse und dergleichen erkennen, die in schärfster Fahrt herankamen. Richtig, es waren die Vermißten und auf dem Bock des vordersten Fuhrwerks saß Tilmanns.

„Ei ja, natürlich!“ brummte Schmidt bei diesem Anblick „Nachfahren, das kann dem feinen Herrn passen. Ist auch weit bequemer als marschieren. Ich hab’s ja gesagt, Achsen und Räder untermachen, dann kommt so’n Drückeberger mit!“

Unterdessen hatten uns die Wagen erreicht, die Leute sprangen eiligst herab, stellten sich auf und Tilmanns wollte dem Regimentskommandeur eben Meldung machen, als ihm dieser schon entgegen rief: „Es ist gut, Kinder! Nur rasch eintreten, wir warten schon lange genug auf Euch. Also fix, wir wollen abrücken!“

Dazu sollte es aber noch nicht kommen, denn mit den Nachzüglern waren einige Mainzer Herren herausgefahren, die mit dem Oberst persönlich bekannt waren und ein gutes Wort bei demselben für die „Versprengten“ einlegen wollten. Auch viele unserer älteren Offiziere kannten die Fürsprecher und so hatte sich bald eine dichte Gruppe um dieselben gebildet und eine lebhafte Unterhaltung entsponnen. Schmidt, der noch neben mir stand, schien mit der Milde des Regimentskommandeurs nicht recht einverstanden, und als nun Tilmanns in unserer Nähe sein Gewehr gegen eine Pyramide stellte, rief er ihm spöttisch zu: „Nun, Herr Tilmanns, Sie hatten sich wohl mit Ihren feinen Freunden beim Sekt festgekneipt? Da konnten Sie natürlich nicht loskommen und mußten uns allein abmarschieren lassen? Haben Sie Ihren Wagen gleich für den ganzen Feldzug genommen?“

„Nein, Herr Feldwebel. Ich war ins Hotel gegangen und habe mich da verspätet,“ antwortete der Gefreite ruhig, trat auf mich zu und meldete „Zur Stelle!“

„In Ihrem Hotel haben Sie sich verspätet?“ fragte ich nun.

„Jawohl, Herr Lieutenant. Ich war sehr müde, habe mich daher schlafen gelegt und habe verschlafen . . .“

„Natürlich! So ’n feiner Herr muß sich die ‚eigenen‘ Stiebel mit der Beißzange anziehen und da kann er nicht zur rechten Zeit fertig werden!“ warf der Feldwebel dazwischen.

„Die Leute im Hotel waren alle fortgelaufen, um das Regiment ausrücken zu sehen, und hatten mich vergessen,“ fuhr Tilmanns fort, „und als ich hinkam, war das Regiment eben durch das Gauthor hinaus und ich konnte nicht durch die vielen Menschen durch ...“

„Und da dachten Sie, anstatt wie ’n ordentlicher Musketier hinterdrein zu laufen, wär’s bequemer, sich eine Equipage zu kaufen und als feiner Herr nachzukutschieren!“ unterbrach ihn der Feldwebel abermals. Bevor indes der Gefreite entgegnen konnte, ertönte die Stimme unseres Premiers. „Gefreiter Tilmanns! Sofort zum Herrn Oberst kommen!“ Und das hatte folgende Bewandtnis:

Als Tilmanns in dem Menschenstrome der Gaugasse stecken blieb, war er mit zwei anderen Musketieren zusammengestoßen, denen es gerade so ging wie ihm. Er hatte daraus geschlossen, daß es vielleicht noch mehr Leidensgefährten geben werde, und sich nun sehr umsichtig benommen. Rasch hatte er sich mit den beiden andern verständigt, diesen eine bekannte Wirtschaft als Rendezvous

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 512. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_512.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)