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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

unsere Gnädige vor drei Jahren durch Zufall auf sie aufmerksam wurde und dann auch gleich in ihrer werkthätigen Art eingriff. Die Eltern waren nur zu froh, der Sorge für das Kind enthoben zu sein, und so kam es hierher. Fräulein Hella dachte zuerst daran, das Mädchen im Schloß zu behalten und die Erziehung selber zu leiten, sah aber, vernünftig wie immer, sehr bald ein, daß ihr dazu doch die Erfahrung mangle, und da die ältere Schwester unserer Pfarrfrau, die seit Jahren im Pastorhause den Unterricht der Kinder leitet, eine sehr begabte und verständige Person ist, so war es das Nächstliegende, Lili dort in Pension zu geben.“

Wildenberg hörte dem wortreichen Geplauder des Oberinspektors gedankenverloren zu. Es wäre ihm lieber gewesen, noch mehr von der „Gnädigen“ zu hören, die bisher nur für wenige Minuten in seinen Gesichtskreis getreten war, aber trotzdem einen ganz bestimmten Eindruck in ihm zurückgelassen hatte. Nur war er sich selbst nicht darüber klar, ob das Selbstbewußtsein, mit dem sie aufgetreten, ihn angenehm oder unangenehm berührt habe. Er schätzte von jeher beim Weibe die Weichheit und Milde, eine gewisse Unsicherheit und Nachgiebigkeit des Charakters, wie sie seine Mutter besessen, während zu jenem streng und edel geschnittenen Kopf Energie und Stolz wie etwas Unerläßliches gehören mußten. Eine heimliche Scheu hielt ihn jedoch ab, Fragen zu thun, welche auf Hella Bezug hatten; er fürchtete eine Wiederholung der unzarten Scherze, die ihn vorhin unangenehm berührt hatten.

Nicht zu den leichtlebigen Naturen gehörend, die sich schnell in neue Menschen und Verhältnisse schicken, begrüßte Wildenberg es dankbar, daß die Gewohnheiten des Hauses es ihm gestatteten, sich frühzeitig in sein Zimmer zurückzuziehen. Es war heiß unter der niedrigen Balkendecke, obgleich die Fenster offen standen. Er beugte sich hinaus, vergeblich Kühlung suchend, und ließ die Augen durch den Garten wandern, der, beinahe taghell vom Mondlicht durchflutet, sich zu seinen Füßen ausbreitete. In einiger Entfernung erhoben sich die Umrisse des Schlosses; aus einzelnen Fenstern des Erdgeschosses schimmerte Licht. Er hatte nicht geglaubt, daß das Schloß so nahe sei, und bemerkte nun, daß nur eine niedrige Hecke den Garten des Oberinspektors von dem herrschaftlichen Parke schied, der in seiner regungslosen Stille zu einsamer Wanderung einzuladen schien.

Wildenberg überlegte nicht lange, ob es erlaubt sei oder nicht, sondern schlich im Dunkeln die Treppe hinab und nahm seinen Weg, da die Hausthür inzwischen verschlossen worden war, durch eines der Flurfenster ins Freie. Er kam sich vor wie ein Knabe, der einen harmlosen Streich ausführt und sich dessen freut – trotz seiner dreißig Jahre gingen die Eingebungen des Augenblicks, die bei ihm oft einen naiven Charakter trugen, noch immer mit ihm durch. Ein Sprung über die Hecke brachte ihn in den Bereich des Schloßgartens, und mit raschen Schritten näherte er sich einer Rotunde, in deren Mitte ein Delphin aus einem Granitbecken einen Wasserstrahl hoch in die Luft blies. Man hatte von hier aus den besten Blick über das stattliche Herrenhaus, das in seiner wuchtigen Masse mehr imposant als schön war. Sechs runde Säulen trugen den breiten Altan des Mittelbaues, und zwischen ihnen sah man durch die geöffneten Glasthüren in ein matt erhelltes Gemach, in dessen rotem Dämmerlicht sich aber nichts genau unterscheiden ließ.

Der Eindringling ging langsam um die Rotunde herum, ab und zu stehen bleibend, um den Duft der Rosen und Jasminblüten einzuatmen, die in verschwenderischer Fülle den Rasenplatz umgaben. Plötzlich schrak er zusammen, denn aus dem Schatten des nächstgelegenen Bosketts trat rasch eine Frauengestalt hervor und zu ihm in den Mondschein. Er erkannte sie sofort – das war der schlanke stolze Wuchs, den er heute schon einmal bewundert hatte – und den Hut ziehend bat er höflich um Verzeihung, daß er zu dieser unpassenden Stunde unbefugt hier eingedrungen sei; als Fremder wisse er weder mit Weg und Steg noch mit den Sitten des Ortes Bescheid und könne daher noch nicht unterscheiden, was verboten sei und was nicht.

Er hatte scherzhaft gesprochen, aber die großen hellen Augen des Fräuleins blickten ihn erkältend ernsthaft an, und als er jetzt schwieg, neigte die Schloßherrin nur langsam den blonden Kopf und sagte, daß die Benutzung des Gartens den Bewohnern des Oberinspektorats und des Pfarrhauses frei stehe; sie sei nur überrascht gewesen, zu dieser Stunde jemand zu begegnen, da sie die Hausordnung der Familie Boße kenne und wisse, daß um diese Zeit die Lampen gelöscht und die Thüren geschlossen würden.

Wildenberg erklärte, wie er herausgekommen sei, und nun flog doch ein leises Lächeln um ihre schöngeschwungenen Lippen. Er hielt es darauf für angezeigt, sich ihr in aller Form vorzustellen, aber sie unterbrach ihn. Sie wisse schon von ihm, er vermutlich auch, wer sie sei – hier auf dem Lande könne man füglich diese Höflichkeitsformen des Salons entbehren. Sie fuhr dann fort, mit ihm zu sprechen, als sei es das Natürlichste auf der Welt, daß sie einander hier im mondbeglänzten Garten getroffen hätten, und ging dabei langsam dem Hause zu, ihn auf diese Art zwingend, an ihrer Seite zu bleiben. Ihre Stimme hatte einen tiefen metallischen Klang.

„Und so werden Sie also längere Zeit bei uns verweilen?“ sagte sie, vor der Säulenhalle stehen bleibend. „Möchte es Ihnen gefallen an diesem Orte des Friedens und der Ruhe, von dem ich mich von Jahr zu Jahr immer schwerer, selbst nur für kurze Zeit, trenne! Sie werden viel von meinem Oberinspektor lernen können. Er wirtschaftet mir sehr zu Dank – auch ich habe viel von ihm gelernt.“

Er sprach sein Erstaunen aus, daß eine so junge Dame die selbständige Leitung eines großen Besitzes übernommen habe.

„Warum sollte eine Dame nicht leisten, was jeder Mann meines Alters leisten würde?“ meinte sie, ihm fest ins Gesicht blickend. „Wo es sich um den eigenen Besitz handelt, findet sich das Interesse von selbst, und wo Interesse vorhanden ist und guter Wille, allmählich auch das Verständnis. Freilich, Lehrgeld muß jeder zahlen, der Mann, welcher ohne Vorkenntnisse ein Gut übernimmt ebenso wie die Frau; aber ich behaupte ganz entschieden und glaube, den Beweis geliefert zu haben, daß die Frau sich diese Kenntnisse ebensogut aneignen kann.“

„Auf jeden Fall sehr viel leichter als ich,“ gab Wildenberg gutmütig lachend zu. „Denn ich fürchte, ich werde mein Lebtag kein praktischer Landwirt, so gern ich auch möchte.“

„Sie haben, wie ich höre, Naturwissenschaft studiert?“

Es überraschte ihn angenehm, daß sie sich offenbar mit ihm beschäftigt hatte. „Ja, gnädiges Fräulein.“

„Nun, das muß Ihnen doch zugute kommen. Das geht ja so vielfach Hand in Hand – zum Beispiel Landwirtschaft und Chemie. Ich hoffe, Sie sollen mir auf diesem Gebiet manche Aufschlüsse geben. Mir sind in den Handbüchern der Chemie verschiedene Dingo unverständlich geblieben und ich freue mich darauf, einen Fachmann hier zu haben, der mir ein wenig weiterhelfen wird.“

„Sie sollten die leichteren Werke dieser Art studieren, gnädiges Fräulein, die für den Laien bearbeitet sind: Die großen ‚Handbücher‘ sind für Damen doch kaum geschrieben.“

„Und Sie trauen mir nicht genug Fassungskraft zu, um Dinge zu begreifen, die doch einem männlichen Durchschnittsverstand begreiflich sein müssen?“

Seine Höflichkeit rang mit der Wahrheitsliebe einen kurzen Kampf, dann kam es zögernd über seine Lippen: „Im allgemeinen halte ich allerdings das Gehirn des Weibes für von Hause aus nicht so entwickelt, um wissenschaftlich scharf und folgerichtig denken zu können.“

„Ja, das sind so die landläufigen Redensarten, mit denen die Männer kurzweg über die Befähigung der Frauen aburteilen, die ich aber entschieden bestreiten muß. Warum wird den Mädchen denn auf den Schulen nicht Gelegenheit geboten, ihren Verstand, also die Gehirnthätigkeit, durch logisches Denken auszubilden? Glauben Sie mir, nur ein paar Generationen hindurch eine andere geistige Zucht und das Können der Frauen wird auf genau derselben Stufe stehen wie das der Männer!“

„Ob sie aber dabei nicht an Reiz einbüßen?“

„In den Augen der Herren unzweifelhaft, aber was liegt daran! Sie halten mich jedenfalls für sehr unweiblich und mißbilligen meine Art der Auffassung natürlich gründlich; allein ich gestehe Ihnen, daß auch das mich nicht beirrt. Ich trete einfach mit allen Kräften dafür ein, unser Geschlecht mit den Waffen auszurüsten, durch die es zu erfolgreichem Kampf mit dem Leben befähigt wird.“

Wildenberg vergaß, daß er selbst noch vor zwei Stunden dem Oberinspektor gegenüber dieselbe Ansicht verfochten hatte; ihre Art und Weise reizte ihn zum Widerspruch, und so versetzte er in bestimmterem Tone als vorher: „Die Frauen sind nicht zum Kämpfen geschaffen. Es ist eines der schönsten Vorrechte der Männer, die Waffen für sie führen zu dürfen.“

Sie lachte ein wenig bitter. „Glauben Sie etwa im Ernst, daß für die Tausende von armen alleinstehenden ältlichen Geschöpfen, die der körperlichen Reize bar sind, sich auch nur ein Finger rühren würde? Es giebt ja bedeutend mehr Frauen in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_546.jpg&oldid=- (Version vom 14.10.2022)