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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Monsieur Cartier, der sonst, nachdem man geläutet, nur die Schnur anzog, die das Hausthor öffnete, und ruhig weiter schlief, war diesmal noch auf. Strahlend saß er am Fenster und rief mir zu: „Hé – bonne nuit, Mademoiselle!“

Nie wohl hat mich ein Gruß tiefer verletzt. Ich fand es empörend, jemand eine gute Nacht zu wünschen, dessen Landsleute eben eine Schlacht verloren hatten.

Lange saß ich im Finstern, ohne mich zu regen. Besiegt – besiegt! Dazwischen sah ich Cartiers triumphierendes Gesicht und hörte sein „bonne nuit!“ Endlich raffte ich mich auf, zündete meine Lampe an und sprach mich in einem Briefe an die geliebten Menschen daheim gründlich aus.

Am nächsten Tage war Paris noch ganz anders geschmückt wie nach Saarbrücken. Ueberall flatterten Fahnen. Teppiche hingen aus Fenstern und über Balkongeländern; viele Laden waren geschlossen.

Mein erster Gang ist nach der Place Royale; ich kann’s kaum erwarten, die treuen, deutschen Freunde zu sehen. Sie sind alle beim Frühstück. Der Doktor ist schon von seiner ersten Besuchstour zurück. Es ist mir unbegreiflich – da sitzt er und schmaust so behaglich, wie ihn der Maler Henneberg auf einem der drastischen Karikaturbilder gezeichnet hat, die im Eßzimmer hängen. Ich fange zu lamentieren an – da schreit er nur: „Haben Sie heute schon ’was Ordentliches gegessen? Nein? Nun dann gleich niedergesetzt und zugelangt – Anna – sieh, daß sie ’was auf den Teller bekommt.“

Und richtig, ich konnte essen – es schmeckte mir sogar, da ich seine Ruhe sah.

„Abwarten – abwarten!“ meinte er dann, nachdem mir endlich Redefreiheit erteilt worden war. „Eine Regierung, die so ein winziges Siegchen wie Saarbrücken mit Trompetenstößen feiert – die läßt einen Triumph wie den gemeldeten nicht hingehen, ohne ihn gleich an die große Glocke zu hängen. Vorläufig ist noch keine offizelle Bestätigung da – abwarten!“

Und damit trat er seine zweite Krankenwanderung an. Mich sollte man ja nicht fortlassen, bis die Geschichte aufgeklärt sei, hatte er vorher noch geboten. Es kamen den Nachmittag wohl ein Dutzend Deutsche zu Doktors; jeder brachte etwas Neues. W.s, die an der Börse wohnten, hatten die Depesche gelesen „Einnahme von Landau, der Marschall Mac Mahon hat 50000 Gefangene gemacht.“ Massenhaft ständen die Leute noch davor und warteten auf die offizielle Bestätigung. Capoul (Tenor der Komischen Oper) hatte von der Imperiale eines Omnibus die Marseillaise singen müssen, dann war in seinem Hut für die Verwundeten gesammelt worden.

Endlich kam der Doktor zurück. Er trat nur herein, da wußten wir schon, daß er eine gute Nachricht brachte. Er hatte die englische „Times“ gelesen, die einen glänzenden Sieg der Deutschen meldeten. Der Franzosensieg war eine Täuschung – die Depesche von der Einnahme Landaus das Bubenstück eines Börsenspekulanten, der Hausse damit bezweckte. Nach unsrer Qual war die Freude nun doppelt süß. Wein und Gläser wurden auf den Tisch gesetzt; aber anklingen durften wir auf unsere Sieger nicht, wegen der französischen Hausbewohner.

Doktors ließen mich nicht allein nach Hause gehen, sondern begleiteten mich über die Boulevards. Hier wirkte bereits die Nachricht der „Times“. Es grollte in dem erbitterten Volk, das an den Straßenecken die neueste Proklamation las und mit lauter, greller Stimme sein Urteil sprach. Der Anschlag verkündetet: Mac Mahon hat keine Zeit gehabt, einen Rapport ins Hauptquartier zu senden. Er ist aber immer noch in einer sichern Stellung.

„So sicher, daß er zum Rückzug hat blasen müssen!“ hieß es. An dem Eckhaus der Richelieustraße und des Boulevard Montmartre mußte es scharf hergegangen sein; hier hatte man den Urheber der falschen Depesche vermutet, einen jüdischen Bankier, und das Haus stürmen wollen. An der mit Eisenstangen geschlossenen Thür stand in dicken weißen Kreidestrichen:

Maison française et non prusienne.

Sicher wollte man es durch diese Worte vor weiteren Angriffen schützen.

Als ich diesmal heimkam, wär’s an mir gewesen, meinem Hausmann: bonne nuit! zu wünschen. Der arme Kerl! Wie ich ihn so verstört, so ganz verzweifelt sitzen sah, that er mir leid. Ich konnte mir ja vorstellen, wie ihm zu Mute sei, nach dem, was ich so kurz vorher selbst empfunden hatte.

Als ach am folgenden Tag von St. Eustache zurückkam, wo der berühmte Organist der Kirche, Baptist, mich jeden Sonntag durch seine Präludien entzückte, waren die Depeschen unserer großen Siege vom 6. an den Ecken angeschlagen. Die einfachen Worte der offiziellen Meldung machten den Eindruck der Wahrhaftigkeit, zugleich der Entmutigung. Die Proklamation der Kaiserin-Regentin, welche bald darauf folgte: sie sei von St. Cloud hereingekommen, um die Fahne Frankreichs hochzuhalten – erweckte anstatt Begeisterung nur Mißbilligung und Spott.

Das impulsive Volk, bei dem Freude wie Schmerz gleich stark nach außen wirken, zeigte nach den verlorenen Schlachten, deren Tragweite es bald begriff, eine allgemeine Bestürzung und Verzweiflung. So wie die erste Depesche, die gefälschte Siegesnachricht, alle Pariser in einem kurzen Jubelrausch zu Brüdern machte, erschienen sie in der Trauer auch wie eine große Familie, die der Schmerz nur enger verbindet.

Da ich, wie schon erwähnt, keine hellen Haare habe, die als anerkannte Barbareneigentümlichkeit verdächtig waren, wurde auch ich von Stockfremden angeseufzt und angesprochen. An jenem Sonntag der Bekanntmachung unsrer Siege kaufte ich abends den „Temps“. Die Verkäuferin hatte verweinte Augen. Als sie mir die Zeitung mit einem Blick auf die großgedruckten Depeschen übergab, flossen neue Thränen.

„Sie haben wohl einen Sohn im Kriege?“

Sie schüttelt den Kopf. „Wir sind besiegt, Madame, besiegt!“ ruft sie vorwurfsvoll, daß die Schmach, die Frankreich betroffen mir nicht genügend scheint, um Thränen zu vergießen.

Tags drauf steuern Agnes und ich mit den neuesten Zeitungen auf eine Tuilerienbank und ich beginne vorzulesen. Ein alter Herr – pensionierter Militär augenscheinlich – der dies bemerkt, fragt, ob er zuhören dürfe. – „Selbstverständlich,“ antworten wir, obwohl unsere Kritik des Gelesenen dadurch beschränkt wird. Während einer Pause stöhnt er: „Ach – so alt geworden zu sein, um das zu erleben! Aber die Revanche kommt noch – geben Sie acht! In Bayern ist die Not so groß, daß sie schon Brot von Lupinen essen. Und in Hannover und Schleswig stehen sie auf, um Rache an den Preußen zu nehmen für frühere Sünden! Das walte Gott, daß ich diese Preußen noch am Boden sehe!“

Bis zu den Lupinen war es (9. Aug.) in Paris noch nicht gekommen, aber die Not machte sich hier bereits fühlbar. Wer von Arbeitern nicht im Kriege war, hungerte mit den Seinen daheim. Alles schlug auf, selbst die Zeitungen, sobald der erste Vorrat in den Kiosken verbraucht war. Besonders interessante Nachrichten wurden dann oft drei-, viermal so hoch bezahlt wie gewöhnlich. Wer sie nicht erschwingen konnte, bat um die gelesenen Blätter. So verfolgten mich einmal zwei kleine Gamins, die sicher ein paar Jahre vorher noch Abcschützen waren. „Les nouvelles, Madame! – s’il vous plait, les nouvelles!“ riefen sie, als sie mich langsam gehend, die Zeitung lesend, trafen. Ich hätte sie den kleinen Franzosen nicht abschlagen können, obwohl ich sie eigentlich in dem schändlichen Verdacht hatte, die Zeitung ungelesen zu verkaufen. Zu meiner Beschämung gewahrte ich dann, wie eifrig sie sogleich zu buchstabieren anfingen.

Kaum waren übrigens die ersten Kummerthränen getrocknet, die Wörth und Spicheren den Franzosen ausgepreßt hatten, als ihr prahlerischer Uebermut sich auch schon wieder Luft machte. Einer der unverschämtesten Lärmtrompeter war damals Emil de Girardin in seinen Artikeln der „Liberte“. Die Blätter erhoben aufs neue den Ruf: „A Berlin! à Berlin!“ Allen voran Girardin, der außer dem linken Rheinufer auch noch Ostende und Amsterdam als zur Sicherung Frankreichs ganz unentbehrlich verlangte.

Am 13. August hatte man einen Anblick der an jene Märchenzeiten erinnerte, die von Säcken, ja Wagen voll Geld erzählen. Die Nationalbank diskontierte an jenem Tage zum letztenmal Papiergeld. Von früh fünf Uhr ab standen da lange Reihen von Menschen, Markthelfer zumeist. Gold war längst unsichtbar geworden. Die Summe von ein paar hunderttausend Franken in Fünffrankenthalern aber bedeutete schon ein ansehnliches Gewicht, konnte schon eine hübsche Menge Säcke füllen, die dann auf bereitstehende Wagen geladen und ihren Eignern zugefahren wurden.

Zwei Tage vorher hatte ich den besorgten Brief eines Verwandten erhalten, dessen Bruder den Krieg als Landwehroffizier mitmachte. Nachricht von diesem war längere Zeit ausgeblieben und ein Gerücht, daß er verwundet sei, schien damit bestätigt. Mein Verwandter hatte gehört, die deutschen Verwundeten – die gefangenen natürlich – wären nach Paris gebracht worden; könnte ich Näheres darüber erfahren?

Die Hamburgerin war gerade bei mir und begleitete mich in das nächste Militärhospital St. Martin.

(Schluß folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 556. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_556.jpg&oldid=- (Version vom 14.10.2022)