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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

warum Mac Mahon sie ins Land gelassen? Eine Kriegslist natürlich, um sie desto sicherer zu vernichten!

Der Gedanke, die Deutschen wären als Sieger in Frankreich, war ihnen offenbar noch nicht aufgegangen. Mac Mahon, unter dem einige gedient, erschien immer noch als der Unüberwindliche.

Den nächsten Morgen ging ich im Interesse meines Verwandten in die Intendantur des Kriegsministeriums. Name und Geburtsort wurden mir am Eingang abverlangt. Als „Preußin“ durfte ich dann nur unter militärischer Bedeckung das Innere betreten. Nach langem Wandern durch endlose Korridore gelangte ich mit meinem Begleiter in das Bureau, wo man Nachricht über Vermißte und Kranke erhielt und wo auch die langen Verlustlisten hingen, neben denen ich angewiesen wurde zu warten. Nie habe ich, in einem Raum zusammengedrängt, mehr Herzeleid gefunden – hier traf man mit den verzweifelnden Müttern zusammen, die ihre Söhne im Kriege hatten. Eine ist mir unvergeßlich geblieben. Scheu, die Züge durchfurcht von Gram, fürchtete sie sich offenbar vor der Totenliste und wagte die Augen nicht aufzuheben, als sie davor stand. Vielleicht auch hatten Thränen sie halb blind gemacht, denn sie fragte mich plötzlich, ob ich nach einem Namen suchen wollte – den ich leider auch auf der Liste fand. Wie mag einem Beamten zu Mute sein, der den ganzen langen Tag solchen Jammer mit ansieht und in sein Buch trägt!

So wahrheitsgetreu die ersten Berichte über unsere gewonnenen Schlachten gewesen waren, von dem weiteren, andauernd siegreichen Feldzug unserer Armee hatten wir Deutsche in Paris keine Vorstellung. Dagegen wurden oft die schrecklichsten Gerüchte in Umlauf gesetzt und wir durch gefälschte oder erfundene Nachrichten gequält. Das Schlimmste war, daß die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen, immer mehr in die Ferne rückte. Wer ohne Paß war, wurde an der Grenze zurückgeschickt, gleichviel ob Mann ob Frau. Mit einem Paß reisen aber glückte nur wenigen, die besondere Protektionen hatten. Es war erklärlich. Hunderttausend Deutsche und ebensoviel andere Fremde wollten fort. Wer revidierte auf einmal so viele Pässe, die unter den obwaltenden Umständen auch noch einer besonderen Bestätigung von der Polizeipräfektur bedurften? Den Nichtdeutschen wurde es insofern leichter, als ihre Konsulate Paris nicht verlassen hatten. Wir waren aber seit der Kriegserklärung eine hirtenlose Herde. Das amerikanische Konsulat, das uns übernommen hatte, konnte trotz zuvorkommender Beamten nicht neben den eigenen Landeskindern, auch noch alle Deutschen in der kurzen Zeit befriedigen. Und so sah man jetzt diese armen Vaterlandsdurstigen in straßenlangen Reihen, dicht gedrängt, je zwei nebeneinander, bald vor dem amerikanischen Konsulat, bald vor der Polizeipräfektur, bald vor dem Ministerium des Innern Queue bilden. Wie oft habe ich mit Agnes so gestanden! Einmal, am 13. August, volle drei Stunden vor der Präfektur. Die erste Stunde außerhalb des Gebäudes auf dem Quai im hellsten Sonnenbrand. Die beiden andern Schritt vor Schritt in dichtgedrängter Reihe uns vorarbeitend durch enge Korridore nach schwülen Zimmern. Als wir endlich, halberstickt von Staub und schlechter Luft vor die Obrigkeit traten, die dort Gewalt über uns hatte, hieß es: „Des Prussiennes?!! Ja, da müssen Sie zuerst ein Attest vom Ministerium des Innern vorzeigen.“

Also umgekehrt – vorwärts, marsch! – nach dem Ministerium des Innern, wo wir ziemlich ebensolange antichambrierten, ehe wir an die Reihe kamen und erfuhren, das Bureau würde sogleich geschlossen, auch wären so viele vor uns eingeschrieben, daß man uns frühestens in drei Tagen berücksichtigen könnte.

Der Napoleonstag (15. August) verging sorgenvoll wie alle anderen. Die Pariser glaubten so sicher, Napoleon werde für die vielen Feuerwerke, die sie ihm früher an seinem Namenstage abgebrannt hatten, diesmal einen Sieg bescheren, daß sie von Morgen bis Abend auf die Depesche lauerten. – Umsonst. Zu unserer aufrichtigsten Freude!

Doktor M ... hatte als Präsident des deutschen Hilfsvereins die Organisation einer Ambulanz übernommen, welche unsere Kolonie ausrüstete. Die Mittel waren durch Zeichnungen sofort gedeckt – dreißig Betten mit allem Zubehör standen bereit – aber es fehlte lange an der Erlaubnis, diese Betten mit französischen Verwundeten zu füllen. Nachdem sie endlich eintraf und man mit der Wirksamkeit beginnen wollte – wurde die Erlaubnis wieder zurückgenommen. Die Amerikaner traten das Erbe an, die Betten wurden ihrer Ambulanz einverleibt.

Eine entsetzliche Epidemie war damals um Mitte August immer noch im Zunehmen: das Spionenfieber. Kein Franzose sagte: „Wir sind besiegt,“ sondern stets: „Wir sind von den Deutschen verraten worden!“

Wiederholt hatte mich seitdem jene provençalische Malerin, Madame B., besucht. Unsere Siege waren ihr zu Kopf gestiegen, vielleicht fühlte sie das Bedürfnis, ihren patriotischen Groll an einer Deutschen auszulassen. So kam sie eines Morgens, verstört und fiebrig, ja sogar vernachlässigt in ihrer sonst stets sehr sorgsam gewählten Kleidung.

Um ihre Empfindlichkeit zu schonen, vermied ich jede Anspielung auf die Tagesereignisse. Ich brachte sie auf Madrid, das sie kannte, zeigte ihr Fächer, die ich von der Reise mitgebracht hatte, und bat sie, sich einmal meine spanische Spitzenmantille anzustecken. Sie stand ihrem pikanten Gesichtchen reizend und für einen Augenblick war das besiegte Vaterland vergessen. Nun hatte eine verrückte Engländerin, die wir beide kannten, damals ihrem Spitz. Stiefelchen anmessen lassen, was ich ihr erzählte. Ich lachte dabei – vielleicht etwas zu laut. Denn plötzlich schlug die Stimmung um – sie fuhr auf.

„Wie können Sie mit einer Französin jetzt von solchen Narrenspossen reden!“ rief sie. „Freilich – Sie gehören zu denen, die unser Unglück verschuldet haben – Sie freuen sich ja nur darüber!“

Ich versuchte, sie zu beruhigen – sie ließ mich nicht zu Wort kommen. Erst gestern hätte sie von einem Verwandten, einem Offizier aus der Umgebung Bazaines, gehört, wie’s die Deutschen trieben. Es war ein hübsches Sündenregister, was sie ihnen ausstellte! Unter anderem – was doch nur natürlich! – hatten sie der Bazaineschen Armee die Zufuhr abgeschnitten – man hungerte im Lager.

„Das thut mir leid,“ rief ich, um nur etwas zu reden, „denn selbst der tapferste Soldat hat einen Magen, an den er im Kriege denken muß.“

„Im Kriege leidet auch der Franzose vom Hunger, aber er denkt nicht daran!“ entgegnete sie stolz.

„Ich weiß, daß der französische Soldat vom Ruhm leben kann“ – versuchte ich zu begütigen, aber da kam ich schön an.

„Sie sprechen von Ruhm, wo wir nur Niederlagen haben – wollen Sie mich auch noch verhöhnen?“ rief sie außer sich mit glühenden, haßerfüllten Augen.

„Warum sind Sie überhaupt noch hier?“ fuhr sie heftig fort. „Kein Mensch fragt, jetzt nach Bildern!“

„Ich bin hier, weil man mich nicht fortläßt …“

„Nein – um zu spionieren! Sie sind ein Spion in preußischen Diensten!“

Drauf lief sie nach der Thür, drehte sich dort noch einmal um. „Auf Wiedersehen, Spionin!“ und fort war sie.

Ganz elend blieb ich zurück, nicht sowohl wegen ihrer Drohung, die ich nicht für Ernst nahm, als weil ich mir vorwarf, sie absichtslos verletzt zu haben. Nun, sobald sie wiederkäme, wollte ich das ins Reine bringen!

Aber sie kam nicht wieder. Dagegen am nächsten Morgen ein Fräulein Z., deutsche Lehrerin, die, wie ich, auf ihren Paß wartete. Sie wollte mich warnen. Man hätte vom nächsten Polizeibureau sie ihrer Aufenthaltskarte wegen rufen lassen, sie aber-eigentlich nur über mich ausgefragt. Ob ich Feinde hätte? Jemand müsse mich angezeigt haben. – Nein. – Ich traute es niemand zu; von Frau B. schwieg ich. Sobald Fräulein Z. mich verlassen, ging ich aber zu meinen Freunden. Die Doktorin schlug die Hände zusammen und sah mich schon im Gefängnis. Selbst dem ruhigen Doktor war die Sache nicht geheuer – ich sollte nur gleich zu ihnen ziehen, meinte er.

„Da gäbe ich ja erst Grund zum Verdacht! Sie können ja untersuchen, da wird meine Unschuld klar werden.“

„Aber man untersucht nicht erst – man freut sich, der öffentlichen Meinung zu schmeicheln, wenn man einen ,Spion’ einsteckt, gleichviel ob’s wirklich einer ist oder nicht!“ behauptete er.

Etwas unruhiger, als ich gegangen, kam ich nach Hause zurück. Richtig. Die Polizei war dagewesen! Frau Cartier hatte den Beamten empfangen und erklärt, sie sei eine gute Patriotin, das wisse er – mich aber gebe sie drum doch nicht heraus! Denn daß ich ein Spion sein sollte, das wäre Dummheit, und sie kenne die, die mir’s eingebrockt hätte! Darauf holte die Gute, Brave,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 572. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_572.jpg&oldid=- (Version vom 3.11.2022)