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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

den alten Maler Gleyre, dessen Schüleratelier dem meinen gegenüber lag, sowie den Vergolder vom Vorderhause herbei, die meinen Ruf von Verräterei zu reinigen hatten. Der Beamte erklärte übrigens, die Anklage gleich für „eine kleine Weiberrache“ gehalten zu haben.

Ich aber war froh, mit heiler Haut davon zu kommen, wie auch unter den Erbfeinden noch so gute Freunde zu haben.

Am 21. August erschien nach vielen ausweichenden und sich widersprechenden Gerüchten über die Kämpfe von Vionville, Gravelotte und Mars-la-Tour eine halboffizielle Proklamation: „Dreißigtausend Preußen von der Armee des Prinzen Friedrich Karl sind in die Kalkgruben von Jaumont getrieben worden und dort elend umgekommen. Man hat frischen Kalk auf Verwundete und Tote geworfen, aber aus dem großen Grabe sind noch lange Klagen und Hilferufe vernommen worden. Prinz Friedrich Karl hat einen Anfall von Wahnsinn gehabt, als er seine Elitetruppen auf diese Weise untergehen sah.“

Das kummervolle Gesicht, das ich nach dieser Nachricht zu Doktor M.s brachte, wurde wieder einmal verhöhnt. Er zeigte mir auf der Karte, wie weit die Deutschen bereits auf dem Wege nach Paris seien, und daß sie an den todbringenden Kalkgruben von Jaunmont gar nicht vorbei gekommen wären. Wie gewöhnlich deckten einige Tage später die englischen Zeitungen auch diese Unwahrheit auf und ließen die deutsche Armee aus der Grube auferstehen, welche die Feinde ihnen sicher gern gegraben hätten. Aber selbst der Kriegsminister hatte der Kalkgruben in der Kammer erwähnt und die Abgeordneten: très bien – très bien! dabei gemurmelt.

Die Verehrung für Mac Mahon war trotz seiner Nieberlagen nicht vermindert worden und die Subskription für den Ehrendegen, den das Land ihm spendete, lieferte eine enorme Summe, obwohl keiner mehr als 50 Centimes geben durfte. Schmuck und Edelsteine zur Zierde des Knopfes kamen von allen Seiten. Selbst unsere brave Cartier opferte das einzige Steinchen, das sie besaß – einen Amethyst, der auf Wunsch ihres Mannes aus einem Patenring gebrochen wurde.

Vom 19. August ab antichambrierte ich viel im Ministerium des Innern, um nur endlich das für meinen Paß beanspruchte Attest zu erlangen – ganz umsonst. Allerdings verlor ich in dem heißen Zimmer oft die Geduld und wartete nicht ab, bis an mich die Reihe kam, weil ich von vornherein überzeugt war, daß man mich als Preußin schließlich doch abweisen werde. Vielleicht irrte ich mich, wie ich jetzt, wo ich ruhigeren Blutes bin, wohl glaube. Denn selbst während des Krieges konnte ich mich eines Beweises von französischer Gerechtigkeitsliebe rühmen. Auf Rat eines Pariser Advokaten hatte ich nämlich Klage geführt gegen ein Pariser Speditionsgeschäft, das die Beförderung eines Bildes nach einer englischen Ausstellung übernommen, dieses aber zu spät und beschädigt abgeliefert hatte. Als die Sache gerade währenb des Krieges zum Austrag kam, bildete ich mir fest ein, ich werde meinen Prozeß verlieren. Aber kurz vor Sedan wurde er zu meinen Gunsten entschieden und mir 600 Franken als Schadenersatz zugesprochen. Eine Jury Pariser Maler hatte mir für das unbedeutende Bild diese Summe zuerkannt, die etwas höher war als die, welche ich selbst für den Verkauf angesetzt hatte.

Am 25. August wurde in einem befreundeten englischen Kreis erzählt, daß die Vereinigung der Armeen Bazaines und Mac Mahons aller Wahrscheinlichkeit nach stattgefunden habe. Denn Frau Bazaine, die Versailles aus Besorgnis vor den nahenden Deutschen habe verlassen wollen, hätte ein Telegramm von ihrem Gatten erhalten: „Bleibe, alles steht güt.“

Freilich stand alles gut – aber für uns! Die preußischen Ulanen hatten wieder eine Stadt eingenommen, und „unser Fritz“ war schon in St. Didier. Der Doktor M., der die „Times“ gelesen, brachte das nach Hause, denn ich war von meinen englischen Freunden zu den deutschen geeilt. Hier ließen wir die Ulanen in Doktors bestem Wein leben, nicht laut, aber voll Begeisterung. Denn die Thaten unserer Reiter hatten es nun einmal an sich, noch blendender zu wirken als die um nichts weniger wertvolle Tapferkeit der in den Tod schreitenden Fußbataillone. Wenn man so liest, wie keck jene zu Zweien oder Vieren im feindlichen Lande vorandrangen, durchs Thor, gerade aufs Rathaus zu: die Stadt ist unser, Herr Maire, im Namen des Königs! Dann noch befahlen, den Hundert oder Tausend, die folgen, ein Mahl zu bereiten, und ehe die verdutzten Bürger sich die Augen gerieben, die Pferde gewendet, und wieder hinaus! – Man kann gut begreifen, wie diese persönliche Bravour, das Ideal französischer Tapferkeit, den Neid erregte! An dem armen Civil ließen die Franzosen dann ihren Aerger aus. Sobald man den einen Tag gelesen, daß die Ulanen wieder eine Stadt annektiert, konnte man wetten, daß den nächsten Tag der Maire dieser Stadt von den Pariser Zeitungen moralisch vernichtet wurde.

Die letzten Tage, ehe die Ausweisung aller Deutschen uns die Freiheit gab, waren grauenvoll, eine schreckliche Scene jagte die andere, und die Aufregung im Volke stieg zusehends. Ueberall wurden Schauergeschichten erzählt von der Wildheit und unmenschlichen Härte der Preußen, die Frauen und Kinder der erschossenen Franctireurs behaupteten schreckliche Dinge und fanden erbitterte Zuhörer. Eines Morgens wurde Herth als Spion erschossen; ich hatte Gutes von ihm gehört, er sollte unschuldig sein und eine verzweifelte Mutter hinterlassen. Ich wachte in der Frühe über Flintengeknatter auf, das möglicherweise ihm galt, und ging, von Unruhe getrieben, aus. Beim planlosen Schlendern geriet ich endlich an die Centralmarkthallen. Ein halbwüchsiges, dürftiges Ding mit einem Pack Morgenblätter, die sie ausrief, kam mir dort entgegen, verfolgt von einem Rudel roher Burschen.

„Das ist auch so eine verfluchte deutsche Kanaille, die aus unserem Elend Geld schlägt!“ hörte ich schreien. Sie drehte sich um: „Ich bin aber nicht deutsch – so laßt mich doch! Ich thu’ Euch ja nichts!“ Ihre Aussprache – vielleicht war sie Elsässerin? – reizte ihre Verfolger nur immer mehr.

„Du nicht deutsch? – Halt die Gusche! – Eine Spionin bist Du! – Verraten hast Du uns so gut wie die anderen! – Versetzt Ihr doch eins!“ – schrie es durcheinander.

Ein Kerl stieß sie mit dem Fuß, daß sie hinfiel, sie aber raffte sich schnell auf und drückte den Rücken gegen das Gitter der Fleischhalle. Sie zitterte vor Angst, die Thränen stürzten ihr aus den Augen. Ein Junge hob einen Stein auf und warf nach ihr. Alles geschah viel schneller, als ich’s aufschreiben kann.

„Wollt Ihr wohl das unglückliche Ding in Ruhe lassen, sie kann sich doch nicht wehren gegen so viele!“ hatte ich unwillkürlich gerufen.

„He, das ist eine Preußin! Eine preußische Spionin!“ schrieen ein paar. Und wie bei einem Stichwort liefen die Leute zusammen, Steine flogen – glücklicherweise ohne zu treffen – ich hätte es auch kaum gefühlt – ein Augenblick nur – da faßte mich eine Hand fest am Gelenk.

„Verdammtes Pack Ihr!“ brüllte einer neben mir, dem die Hand gehörte. – „So seht Euch doch die Leute an, eh’ Ihr zuschlagt! Das ist ja eine Französin. Eine anständige Frau!“

Jetzt begriff ich; der sprach, wollte mir helfen. Er sah resolut aus, vierschrötig, bürgerlich. Offenbar war er auf dem Markte bekannt und respektiert. Sie wichen zurück. Laut weiter schimpfend, mich aber dabei fest am Arm haltend, zog er mich fort. Er schlug die Richtung nach Pont-Neuf ein, die zugleich die nach der Polizeipräfektur war. Vielleicht – dachte ich – hat er mich befreit, um mich auf der Polizei als Spion einstecken zu lassen! – Ich fürchtete mich fast ebenso vor ihm wie vor den anderen. Er sah sich ein paarmal um, ob sie uns nicht folgten – nein. Dabei hielt er mich aber immer noch fest - er hatte meinen Arm jetzt durch seinen geschoben - als ob er einen Fluchtversuch fürchte. Ich dankte Gott, als er am Quai nicht nach der Präfektur einbog, sondern über die Brücke weiterschritt. Da, wo das Reiterstandbild von Heinrich IV. steht, fing er an: „Wer heißt Sie auch, sich in Dinge mischen, die Sie nichts angehen? Wissen Sie nicht, daß Sie sich aussetzen, in die Seine geworfen zu werden? Ja – ja! Starren Sie mich nur an! Erst gestern ist so etwas passiert – das Volk fackelt jetzt nicht lang’ – weiß nicht mehr, was es thut!“

„Aber ich konnte doch nicht ruhig ansehen, wie sie das arme Ding quälten!“

„Ging Sie gar nichts an!“ – Er sprach rauh und unfreundlich, durchaus nicht wie ein Rettungsengel. – „Der thun sie schließlich nicht viel – wer Lumpen trägt wie sie selbst, kommt davon . . . Aber Sie – denn Sie sind doch wohl – une prussienne?“

Ich nickte, wollte ihm danken. Er stieß meine Hand zurück.

„Schon gut – schon gut!“ rief er, „fangen Sie nur nicht wieder von vorn an!“

Dabei kehrte er um und ließ mich stehen. Hoffentlich wird ihm gelohnt, was er an mir gethan hat und was ich im Augenblick kaum recht begriff. Alles war so rasch gegangen, daß ich keine Zeit hatte, nachzudenken. Und als dann mit der Besinnung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 574. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_574.jpg&oldid=- (Version vom 4.11.2022)