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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Aber das Kind, die Lili! Hast Du gar nicht bedacht, was für schreckliche Tage sie durchzumachen haben wird? Allein mit einem Trunkenbold, dessen Häuslichkeit obendrein nicht einmal für die Aufnahme eines so verwöhnten Wesens eingerichtet sein wird.“

„Für Lili wird es eine ganz gute Lehre sein. Wie Du eben sagtest, ist sie in unserem Kreise zu sehr verwöhnt worden und muß wieder lernen, sich in andere Verhältnisse zu schicken, da sie doch einmal darauf angewiesen ist, sich auf eigene Füße zu stellen.“

„Es ist eine schöne Sache um die Prinzipien,“ rief die Gräfin ärgerlich, „wenn man nur nicht seinen Nächsten damit so herzlich unglücklich machte! Uebrigens wirst Du im Grunde Dir selbst und auch mir kein X für ein U machen.“

„Was willst Du damit sagen?“

„Nun denn, ganz ohne Umschweife: die Gründe, die Du laut aussprichst, sind durchaus nicht ausschlaggebend für Dich. Der eigentliche treibende Beweggrund, der Dich veranlaßt, Lili jetzt Hals über Kopf fortzuschicken, ist die Eifersucht.“

„Lotti!“

„Jawohl, die Eifersucht! Du mußt mir das schon verzeihen, ich habe immer das Vorrecht gehabt, Dir gegenüber alles auszusprechen, was mir durch den Sinn geht. Daß Du Dich für Wildenberg interessierst, steht fest. Deine Prinzipien gestatten Dir nicht, ihn zu heiraten – gut! Du kannst es aber auch nicht ruhig mit ansehen, daß eine andere sich das aneignet, was Du aus falschem Selbstgefühl verschmähst. Und weil Du gleich mir bemerkt hast, daß sein Gefühl zwischen Dir und Deiner Pflegetochter geteilt ist, daß Ihr beide, wenn auch in ganz verschiedener Weise, seine Phantasie beherrscht, so suchst Du einen Vorwand, um Lili so schnell als möglich aus seinem Gesichtskreise zu entfernen und Deinen Triumph voll auskosten zu können. Aber Du irrst Dich. Gerade die Entfernung Lilis wird sie dem Zurückbleibenden nur um so teurer machen. Der Fehlende hält unsere Phantasie fest, die ihn mit hundert kleinen Erinnerungen umkleidet. Wir empfinden eine Lücke, welche die Anwesenden nicht auszufüllen vermögen, unsere Gedanken begleiten ihn, und schließlich sehnen wir uns in einem Grade nach dem Vermißten, daß wir uns am liebsten aufmachen möchten, um hinterher zu laufen. – So, nun habe ich meinem Herzen Luft gemacht, und nun magst Du thun, was Du für richtig hältst.“

„Niemand außer Dir hätte wagen dürfen, mir etwas Derartiges zu sagen, ich will es unserer alten Freundschaft zugute halten und versuchen, zu vergessen. Aber ich bitte Dich ernstlich, nicht mehr auf diesen Gegenstand zurückzukommen. Alles hat seine Grenzen und meine Geduld hat die ihrigen erreicht. Ueberlaß Du es ruhig mir, so zu handeln, wie ich es für recht halte – ohne Kommentare!“

„Sonst zeigst Du mir die Thür, nicht wahr? Ich will Dir die Mühe ersparen und reise morgen freiwillig ab. Es ist mir nicht gegeben, mit dem, was ich denke und fühle, hinterm Berg zu halten, und ich kann es auch nicht ruhig mit ansehen, wie Du Dein und Lilis Lebensglück mutwillig zerstörst.“

„Ich kann Dich naturlich nicht halten, wenn Dir der Aufenthalt hier nicht mehr zusagt,“ gab Hella frostig zur Antwort. „Du weißt, wie lieb Du mir bist und wie sehr mich Dein Besuch freut, aber ich kann mich selbst Dir zu Gefallen nicht mehr ändern und muß schon so verbraucht werden, wie ich nun einmal bin.“

„Und Du bestehst also darauf, die Kleine ihrem Vater zu schicken?“

„Für einige Zeit jedenfalls. Inzwischen werde ich mit meinem Rechtsanwalt Rücksprache nehmen, aber es bleibt dabei, daß Lili morgen Strehlen verläßt.“

„So wird sie es in meiner Begleitung und unter meinem Schutze thun. Ich selbst werde sie zu dem alten Trunkenbold bringen und ihn mit allen Strafen der irdischen und himmlischen Gerechtigkeit bedrohen, wenn er das Kind nicht gut behandelt.“

„Ich bin Dir natürlich sehr dankbar, wenn Du das thust, würde aber selbstverständlich für eine zuverlässige ältere Begleiterin gesorgt haben.“

Die beiden Damen trennten sich mit kaltem Gruße und vermieden bis zum Augenblick der Abreise jede intime Begegnung. Die Gräfin, eine von der Welt verzogene Frau, war es gewohnt, ihren Kopf für sich zu haben und für ihre Einfälle stets lebhaften Beifall zu finden. Der schroffe Widerstand, den ihre Cousine ihr entgegensetzte, verleidete ihr den Aufenthalt, und Hella wieder empfand jede unberufene Einmischung als einen unberechtigten Angriff auf ihre Selbständigkeit. Ihr Zusammensein endete daher beinah immer mit einem heftigen Streit und plötzlicher Abreise der einen; trotzdem liebten sie einander und versuchten es in jedem Jahr aufs neue, sich zu vertragen.

Lili selbst zeigte sich halb erschrocken, halb erfreut über die Abwechslung, welche diese Reise ihr bringen sollte. Sie war das unruhige Zigeunerleben von klein auf zu sehr gewohnt, um eine ausgesprochene Abneigung gegen den Gedanken zu empfinden, für einige Zeit in den väterlichen Haushalt zurückzukehren, dessen Jämmerlichkeit sie mit jugendlicher Unbefangenheit kaum bemerkt hatte. Die Aussicht, diesem Haushalt selbständig vorstehen zu können, hatte sogar einen gewissen Reiz für sie. Nur als Wildenberg, der es sich nicht hatte nehmen lassen, sie zur Station zu begleiten, ihr zum Abschied die Hand reichte und bewegt rief: „Auf baldiges Wiedersehen! Und möchte es Ihnen inzwischen gut ergehen!“ da lief ein Schatten über ihr Gesicht, als komme zum erstenmal die Ahnung über sie, was es mit dieser Trennung auf sich habe, und sich hastig zum Fenster des Eisenbahnwagens hinausbeugend, sagte sie lachend zwar, aber mit Thränen in den Augen: „Wie sollte es mir nicht gut ergehen, trage ich doch Ihren Vierklee bei mir!“

Gleich darauf setzte der Zug sich in Bewegung. Wildenberg blieb auf der Plattform stehen, bis er seinen Blicken entschwand. Es war ihm ganz sonderbar zu Mut. Der sonnige Tag, die warme Septemberluft vermochten nicht, in ihm ein Wohlgefühl zu erwecken, und als er durch die Strehlener Dorfstraße ritt und zum Pfarrhause hinüberblickte, fiel ihm ein, wie er zum erstenmal hier vorübergekommen war und wie damals Lilis dunkles Köpfchen durch die Lücke der Fliederhecke gelugt hatte. Bisher war ihm Strehlen immer als ein schöner Ort erschienen – in diesem Augenblick kam ihm seine ganze Umgebung öde und reizlos vor. Er konnte nicht über ein inneres Unbehagen hinweg, das ihn nicht losließ, das sich mehr und mehr steigerte und ihn unlustig zu allem machte. Da er für den Abend keine Einladung ins Schloß erhielt, so ging er zu dem Pfarrer hinüber, aber seine Unruhe steigerte sich hier bis zur Unerträglichkeit. Lilis Abwesenheit machte sich gebieterisch fühlbar. Seine Gedanken folgten ihr und beschäftigten sich unablässig mit ihrem Schicksal. Er sah sie im Geist in der dürftigen Umgebung des väterlichen Haushalts, in der Gesellschaft des verkommenen Mannes, und eine große Angst griff ihm plötzlich erkältend ans Herz. Welchen Gefahren konnte sie bei ihrer Jugend nicht in dieser Gesellschaft ausgesetzt sein!

Seine Unruhe steigerte sich wennmöglich noch am folgenden Tag. Er sehnte sich nach Lili in einem Grade, wie er es nicht für möglich gehalten haben würde, so daß Hella ganz in den Hintergrund seiner Gedanken trat und der gewohnte Ritt mit ihr unterblieb, trotzdem sie zu Pferde an dem Oberinspektorat vorüberkam. So wie so hatte sich seit der Brandnacht eine Scheidewand zwischen ihnen aufgebaut, die eine unbefangene Unterhaltung nicht aufkommen lassen wollte.

Nachwittags, wie er der Säemaschine ins Feld hinaus folgte, trat sie plötzlich durch das Parkgitter zu ihm auf den Weg. Sie pßegte sonst diese Zeit in ihrem Zimmer mit Lesen oder Schreiben hinzubringen, es lag also wohl ihrem unerwarteten Erscheinen eine bestimmte Absicht zu Grunde. Aber er dachte kaum darüber nach; er war so völlig erfüllt von dem Bilde der Abwesenden und von der Sorge um sie, daß er gleich von ihr zu sprechen begann, ohne zu bemerken, wie wenig seine Gefährtin darauf einging. Er hatte niemals Komödie spielen und mit seinen Gefühlen zurückhalten können, und was seine Worte nicht ausdrückten, das verriet der Ton seiner Stimme.

Hella ging schweigend neben ihm her. Nach ein paar Schritten jedoch kehrte sie um und bemerkte mit schwachem Lächeln, daß sie die Wärme unangenehm empfinde und ihren Spaziergang lieber auf gelegenere Zeit verschieben wolle.

„Sie sehen schlecht aus, gnädiges Fräulein!“ sagte er teilnehmend, ihr zum erstenmal voll ins Gesicht blickend. „Sie haben sich in der Brandnacht zuviel zugemutet und die Folgen machen sich jetzt geltend. Zu warm? Ich bitte Sie! Wir haben kaum vierzehn Grad, und die Luft ist leicht wie nie. Soll ich Sie nicht heimbegleiten?“

Sie richtete sich straff auf, obgleich ihr Gesicht in der That leichenblaß war, und winkte abwehrend mit der Hand, indem sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_594.jpg&oldid=- (Version vom 16.10.2022)