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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Johanne von dem Busch erhob keineswegs den Kopf von ihrem Blumenstück, sondern sagte:

„Selbstredend. Was ziehst Du an?“

„Wir sind auch da,“ sagte die dritte junge Dame, die Weinblätter abmalte, welche mit langen Ranken aus einer Vase vor ihr niederhingen. Sie war eine Schwester der vierten Schülerin.

„Die alte Wallwitz giebt ihn wegen der Lilly.“

„Wißt Ihr schon, daß sie den ganzen Winter dableiben soll bei ihrer Großmama?“

„Scharfe Konkurrenz für uns.“

„Sie ist entzückend!“

„Ich finde, sie ist gräßlich.“

„Sieht sie dem Bruder ähnlich?“

„Sehr.“

„Gott! Sibylle! Keine Spur.“

„Sibylle schwärmt für den Lieutenant von Wallwitz.“

„Das ist nicht wahr.“

„Hat der Lieutenant von Wallwitz eine Schwester?“ fragte Magda. Sie kannte ihn flüchtig, von Gesellschaften her, aber sie hatte René und Hortense sehr warm von ihm sprechen hören.

„Ja,“ sagte Sibylle Lenzow, die es als ihre Angelegenheit anzusehen schien, hier Auskunft zu geben. „Weil doch die Wallwitzens auf dem Lande wohnen, soll Lilly hier den Winter mitmachen. Sie kommt frisch aus einer Genfer Pension, wo es einfach himmlisch gewesen sein soll. Lilly hat denn auch ’was riesig Forsches.“

„So,“ meinte Magda, den Pinsel niederlegend. „Zum Kelch kannst Du ein bißchen Neapelgelb nehmen. Aber so wenig, daß Du denkst, es sei zu wenig.“

Eine Minute herrschte Schweigen.

Magda zerbrach sich den Kopf, was sie machen und sagen sollte, wenn René jetzt käme. Die Vorstellung dieser Möglichkeit machte ihre Finger erzittern.

„Gehst Du heut’ in ‚Lohengrin‘, Hans?“ fragte Sibylle Lenzow, sich zurücklegend, denn die Freundin saß am Tisch hinter ihr.

„Denk’ Dir, wie scheußlich, es ist nicht unser Abend,“ antwortete Johanne von dem Busch.

„Pech. Wir gehen.“

Nun redeten die jungen Stimmen wieder durcheinander. Bärwald, der Heldentenor, ward als göttlich gepriesen, als greulich gescholten. Den ganzen Theaterzettel stritten sie durch und endlich und natürlich fiel der Name, der eine! Die Mädchen „schwärmten“ für René. Er solle mit der Kaspari verlobt sein, der Ortrud von heute abend. Die Schwestern wußten es gewiß und Sibylle wußte ganz gewiß, daß es nicht wahr sei. Dann würde sie ein Wort davon bei Wallwitzens gehört haben, denn er sei doch Renés Freund. Dies „er“ trug ihr Neckerei ein und lenkte das gefährliche Gespräch in andere Bahnen.

Das gefährliche Gespräch? War es nicht ein ganz harmloses? Hatten die lustigen und nur mit Vergnügungen beschäftigten Mädchen nicht schon hundertmal so und ähnlich gesprochen? War denn nun alles verändert? Rings nur noch Unfreiheit? War die Heimlichkeit nicht süß, sondern bitter? Magda preßte die Hände zusammen und drückte sie an die Stirn.

Es klopfte. Magda wurde leichenblaß. „Herein!“ riefen die vier jungen Stimmen eigenmächtig, denn hier kam niemand Fremdes und jede Abwechslung war willkommen.

Es war Hortense von Eschen. Sie sah sich sofort von den vier jungen Damen in Malschürzen umringt und wehrte nur ab. Magda stand beiseite und sammelte sich. Sie fühlte sich erleichtert und enttäuscht zugleich.

„Ich denke, es ist schon ein Uhr vorbei,“ sagte Hortense.

„Was, schon Eins?“ riefen die Mädchen.

Die Malschürzen flogen nur so auf den nächstbesten Stuhl. Es galt, keine Minute zu versäumen. Um Eins konnte man in der Ringstraße allerlei interessanten Leuten begegnen, die ihrerseits auch wußten, daß vier gewisse junge Damen dann aus der Malstunde kamen.

Der Lärm vertobte und das Lachen klang die Treppe hinunter.

Magda warf sich an die Brust der mütterlichen Freundin.

„Nun, was ist?“ fragte Hortense.

„Er ist in der Stadt, muß in der Stadt sein und ist nicht gekommen,“ stammelte Magda.

„Er wird eben sehr beschäftigt sein,“ tröstete Hortense. Sie sprach von morgen mittag, ob Magda dann nicht mit René bei ihr speisen wolle und ob das nicht besser sei, als in den großen Gesellschaften zu erscheinen. Sie hatte eigentlich nicht schon morgen das heimliche Brautpaar zu sich laden wollen, aber Magdas schwere Enttäuschung dauerte sie so. Sie wußte ja, wie das Warten auf einen lieben Menschen thut.

Magda fühlte sich sofort freudig getröstet. Es gab nur ein Bedenken: der Vater. Aber wenn Nicolai mit dem Vater essen wollte …

„Frag’ ihn gleich.“

Magda lief auf den Flur und klopfte an Nicolais Thür.

„Sind Sie da? Bitte kommen Sie heraus!“ Und Nicolai kam. Er war ein überlanger schlanker Mensch, mit einem blassen Gesicht von regelmäßigen, fast strengen Zügen, die einen unbewegten Ausdruck hatten. In diesem Gesicht stand ein Paar großer Augen, die stetig blickten, als könnten sie den einmal erfaßten Gegenstand nicht schnell wieder loslassen. Sein blondes Haar deckte nur spärlich das kleine Haupt und an den Wangen zog sich ein dünner Bart steif hin.

Er küßte Hortense die Hand. Er liebte sie, weil sie gut zu Magda war. Er hatte mit ihrer Welterfahrenheit und ihrer Illusionslosigkeit keine Berührungspunkte. Aber seit er einmal gesehen hatte, daß sie sich tief und rein über Kunsteindrücke enthusiasmieren konnte wie ein Kind, seitdem schätzte er sie auch um ihrer selbst willen.

„Was soll ich, Fräulein Magda?“ Dies war seine immer gleiche Frage, wenn sie ihn rief. Es war für ihn so selbstverständlich, ihr zu Diensten zu sein, daß es stets sein erster Gedanke war, obschon sie ihn oft rief, wenn sie ihm eine kleine Freundlichkeit erweisen wollte.

„Morgen mit Papa speisen. Ich soll bei Frau von Eschen zu Tisch sein. Wollen Sie? Papa, wissen Sie, liebt nicht, allein …“

„Aber selbstverständlich. Ich habe Ihnen noch zu danken – Ihre Kathi hat mir heut’ früh wieder den heißen Haferschleim gebracht,“ sagte Nicolai.

„Wir haben Sie gestern husten hören und Kathi ist Ihnen abends spät ohne Paletot begegnet,“ hielt Magda ihm strafend vor.

Er lächelte schmerzlich. Seine Kränklichkeit gewann ihm immer neu ihre fast schwesterliche Fürsorge. Der Gesunde hätte solche nicht empfangen.

Aber der Gesunde hätte vielleicht um eine anders geartete werben dürfen – –

Hortense sah das Bild an, welches über dem Diwan hing und das sie natürlich schon auswendig kannte.

„Es ärgert und fesselt mich immer neu, lieber Nicolai,“ sagte sie.

Das Bild, von einem weißen Rahmen umfaßt, stellte in einer blassen Frühlingslandschaft ätherische, schmalaufgeschossene und steil nebeneinanderstehende Wesen vor, die auf wundersam geformten Instrumenten musizierten. Die Farben ihrer kinderhaften Körper und durchsichtigen Gewänder hoben sich kaum von der Landschaft ab. Vorn lag ein Mann und hörte geschlossenen Auges und verzückter Miene der Musik zu. „Die Stimme des Frühlings“ hieß das Bild.

Ehe noch Nicolai antworten konnte, kam von der Küche her, durch Magdas Schlafzimmerchen, Kathi, die rauhe und wichtige Magd. „Da is ’n Brief,“ sagte sie und hielt Magda ein Schreiben hin, welches vorn am Etageneingang abgegeben war.

Magda nahm es, riß das Couvert ab, das zu Boden fiel, und überflog die wenigen Zeilen.

„Herzensliebste! Vorgestern abend bin ich angekommen, gestern hatte ich zwei Proben zu leiten. Meine Hoffnung, Dich heute sehen zu können, hat sich zerschlagen, denn auf flüchtige Minuten mag ich nicht kommen. Aber ich denke, Du wirst im Theater sein. Voneinander fern, fühlen wir dann doch unsere innerste Zusammengehörigkeit.

René.“  

Nicolai hatte das Couvert aufgenommen, und voll Ueberraschung, die zu jäh war und zu harmlos, als daß er sie hätte unterdrücken können, rief er:

„Das ist ja Flemmings Handschrift.“

Die charakteristischen. Züge, flüchtig hingeworfen und doch in der Eile noch ihre Besonderheit bewahrend, konnte niemand verkennen, der sie einmal gesehen.

„Ich wußte nicht, daß Sie ihn kennen,“ setzte er unsicher

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_691.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2023)