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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

sind natürlich ärgerlich darüber, revoltieren und zünden ein Paar Baracken an. Dafür läßt sie der bayrische Wüterich von den Wällen herab durch seine Soldaten niederschießen und die Metzelei dauert bis zum Eintritt der Nacht. Zwei der Kriegsgefangenen, darunter derjenige, der die Geschichte erzählt, wollen sich in der Dunkelheit aus ihren Verstecken durch die Flucht retten. Dem Erzähler glückt dies; sein Kamerad aber, der kein guter Turner ist und keinen Aufzug gelernt hat, vermag nicht eine Wallmauer zu erklimmen und wird von den Deutschen erschossen.

Die Geschichte wird lediglich zu dem Zwecke erzählt, die Vorteile des Turnens zu zeigen; daß dabei ganz ohne Not die Ehre deutscher Offiziere in hämischer Weise mit Kot beworfen wird, ist dem französischen Verfasser kein Bedenken gewesen; ganz im Gegenteil! Es steckt eben Methode in solchen Lügen, die nun jährlich von vielen tausend französischen Schulknaben mit Schauder und Grimm als wahr gelesen werden. Es steht ja gedruckt da und er hat’s gesagt, der Lehrer! – Der Erzähler Burdeau ist übrigens kein anderer als der 1894 verstorbene Minister und Kammerpräsident Aug. Burdeau, der 1870 selbst als Kriegsgefangener aus Deutschland geflohen ist.

In dem ebenfalls für Volksschulen bestimmten illustrierten Leitfaden „L’instruction civique“ von Paul Bert, in einem Buche, das, weil es sehr radikal ist, von der katholischen Kirche auf den Index gesetzt worden ist, aber doch wohl in vielen Schulen gebraucht wird, heißt es auf Seite 27: „Als 1871 die Preußen uns Elsaß-Lothringen genommen, haben sie daselbst zuerst die mannigfaltigsten Abscheulichkeiten begangen und jetzt noch wird es von ihnen ungefähr wie eine deutsche Provinz (!) behandelt, nur noch etwas härter, weil sie sich von den Bewohnern des Landes verabscheut wissen.“ Auf einer nebenstehenden Abbildung, welche die Unterschrift „Grausamkeiten des Krieges“ trägt, sieht man, wie eine Abteilung preußischer Soldaten auf Befehl ihres Offiziers ein händeringendes Weib erschießen; mehrere andere Opfer liegen schon niedergestreckt am Boden. – Paul Bert war Professor an der Sorbonne in Paris und hat auch vorübergehend den Posten des Unterrichtsministers inne gehabt.

Unter der Ueberschrift „Ein heldenmütiges Bauernmädchen“ wird in dem Lesebuche von Ch. Lebaigue (Le livre de l’école, cours préparatoire; Paris, Belin) S. 103 folgendes erzählt:

„Während des Krieges von 1870 war ein Bauernmädchen als Hüterin eines bei Metz gelegenen Meierhofes allein zurückgelassen worden. Eines Tages wird das Haus von einer Rotte bayrischer Soldaten besetzt. ,Du wirst meine Fragen beantworten,‘ sagt der Offizier zu ihr. ,Vor zwei Stunden ist ein französisches Regiment hier durchgezogen: nach welcher Seite hat es sich gewendet?‘ Das junge Mädchen erbleicht; dann antwortet es nach kurzem Zaudern: ,Ich bin Französin, ich darf Euch nicht sagen, was den Franzosen Verderben bringen kann.‘ – ‚Wir werden Dir schon Dein Geheimnis zu entreißen wissen,‘ versetzt der Deutsche wütend. Und indem er sich an seine Truppe wendet, ruft er: ‚Soldaten, führt sie in den Hof und stellt sie an die Mauer!‘ Der Befehl wird ausgeführt und sechs Mann stellen sich auf, bereit, auf den ersten Wink ihres Führers Feuer zu geben. ‚Jetzt,‘ sagt dieser, ‚wirst Du reden.‘ – Das junge Mädchen schwieg. – ‚Zum zweitenmal befehle ich Dir, sprich!‘ – Sie schwieg. – ‚Zum drittenmal, sprich!‘ – Sie schwieg. – ‚Soldaten, Feuer!‘ Und das heldenmütige Mädchen sank, von den Kugeln durchbohrt, nieder.“

Auch hier wird in einem beigegebenen Bildchen die grausame Scene den jugendlichen Lesern möglichst anschaulich gemacht. Als Quelle wird die Pariser Zeitung „Le petit Journal“ genannt. Wie wenig man aber von der Glaubwürdigkeit solcher Quellen zu halten hat, ergiebt sich schon aus dem Umstande, daß dieselbe Geschichte in anderen Schulbüchern in ganz anderer Form wiederholt wird, so z. B. in einem der illustrierten Lesebücher von M. Guyau (La première année de lecture courante. Paris, Armand Colin). Hier trägt das Lesestück die Ueberschrift „Verschwiegenheit während des Krieges“. Die Soldaten werden als Preußen bezeichnet, das Mädchen wird mit Namen genannt, Susanne Didier; die ganze Darstellung ist farbenreich und auf starken Eindruck berechnet.

Kein Wunder, wenn durch Vorführung solcher Lesestücke die kritiklose Schuljugend von stillem Ingrimm und Haß gegen die Deutschen erfüllt wird. Der schon mehrfach erwähnte Burdeau scheint sich dessen voll bewußt gewesen zu sein und an der Stelle seines Buches, wo er von der Menschenliebe, von der Feindesliebe spricht, sucht er sich durch einige sophistische Wortklaubereien mit seinem Gewissen abzufinden.

„Wie,“ so läßt er einen der Schüler den nach sokratischer Weise unterrichtenden Lehrer unterbrechen, „wie, Herr Lehrer, wir sollten also auch die Preußen, die Bayern, alle jene Deutschen lieben, die so mit Mord und Brand in Frankreich gehaust haben und welche die elsaß-lothringischen Franzosen noch jetzt so viel leiden lassen?“ – Darauf antwortet der Lehrer: „Allerdings könnt Ihr nicht diejenigen lieben, welche die Franzosen bedrücken. Immerhin sind es Menschen. Sie haben Euch Eure elsaß-lothringischen Brüder gestohlen; es gilt, alles zu deren Befreiung vorzubereiten. Aber wenn Ihr später so glücklich gewesen seid, dieses große Werk zu vollbringen, so dürft Ihr nicht den Feinden Böses mit Bösem vergelten wollen. Nein, man muß versuchen, einen guten Frieden zu schließen, der den alten Haß auslöscht und von dem die ganze Menschheit Vorteil hat. Jedes Volk hat ja seine besonderen guten Eigenschaften. Man muß also alle respektieren, unter der Bedingung, daß sie zuerst Frankreich respektieren.“ Und in dieser Weise redet der Lehrer bei Burdeau noch eine gute Weile fort.

Nachdem an den vorstehenden Beispielen hinlänglich gezeigt worden ist, welch plumper oder ungerechter Mittel sich in Frankreich die einzelnen Verfasser der Volksschulbücher bedienen, um Deutschenhaß und Rachedurst im Herzen der französischen Jugend zu entflammen, soll nicht unausgesprochen bleiben, daß hier und da in diesen Büchern auch der wahre, echte Patriotismus, frei von verblendeter Leidenschaft, einen beredten Ausdruck findet. Wie aber selbst in gemäßigten und hochgebildeten Kreisen über die „elsaß-lothringische Frage“ gedacht und wie dieselbe den Zöglingen mittlerer und höherer Schulen dargestellt wird, darüber möge uns folgendes Beispiel belehren, das wir dem Geschichtsabriß „Histoire générale“ von Ernest Lavisse (Paris, Armand Colin) entnehmen:

„Die Soldaten, Kanonen und Festungen kosten viel Geld. Deutschland hat 500 Millionen für Festungen ausgegeben und Frankreich noch mehr. Jedes Jahr kostet das französische Heer 600 (?) Millionen. Viele Leute meinen, daß dieses Geld besser verwendet würde, wenn man Wege, Brücken, Schulen damit baute und vor allem die Steuern herabsetzte. Daher wünschen sie, daß sich die Völker dahin verständigen möchten, abzurüsten oder doch wenigstens minder zahlreiche und kostspielige Heere zu unterhalten. Andere sagen, daß die civilisierten Völker Europas nicht mehr wie die Wilden gegeneinander kämpfen dürften und daß etwaige Streitfragen durch europäische Gerichtshöfe geschlichtet werden müßten, so wie die Bewohner Frankreichs ihre Rechtsstreitigkeiten durch die französischen Gerichtshöfe zum Austrag bringen ließen. Vielleicht wird die Zukunft diesen Leuten recht geben, die Gegenwart giebt ihnen unrecht. Wir in Frankreich müssen wünschen, daß unser Heer sehr stark sei, daher müssen wir alle gute Soldaten sein: das ist unsere nationale Pflicht. Frankreich bedroht niemand mehr. Seit es sich selbst regiert, führt es keine Eroberungskriege mehr. Eroberungskriege entstehen aus Ehrgeiz und erscheinen uns verwerflich. Aber es giebt auch gerechte Kriege, die man gegen die Ungerechtigkeit geführt hat. Der Vertrag, der die Elsaß-Lothringer gezwungen hat, wider ihren Willen Deutsche zu werden, ist eine Ungerechtigkeit.“

Wenn auch anzuerkennen ist, daß in den letzten Jahren die feindselige Spannung in Frankreich etwas nachgelassen hat und die Freunde des Völkerfriedens sichtlich an Boden gewonnen haben, so werden bei solcher Erziehung des heranwachsenden Geschlechts die Franzosen noch lange nicht über die angebliche „Ungerechtigkeit“ des Frankfurter Vertrags zur Ruhe kommen; auch in ihren Schulbüchern nicht und werden noch lange ihre chauvinistischen Anschuldigungen und Hetzereien wiederholen. Und so lange heißt es für uns, eines jähen Ausbruchs des so unvernünftig geschürten Hasses gewärtig sein! Mit dieser Möglichkeit müssen wir rechnen und bei aller Friedensliebe bereit sein, einen uns etwa aufgedrungenen Krieg mit voller Rüstung und Kampfbereitschaft aufzunehmen, damit die durch höchsten Aufwand unserer Volkskraft in furchtbaren Schlachten zurückgewonnenen deutschen Lande, Elsaß und Lothringen, dem Vaterlande niemals wieder geraubt werden.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 719. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_719.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2023)