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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

und wenn in seiner Seele nicht einmal mehr recht das Bewußtsein lebte, die da neben ihm kniete, sei sein Kind, sein unglückliches, tödlich leidendes Kind – es war doch eine lebenswarme Vaterhand, die Magda umklammerte – es war doch die einzige Stätte auf der großen, weiten Welt, von welcher niemand Magda vertreiben konnte, die ihr kein anderes Weib, kein neues Gefühl streitig machen durfte.

Sie preßte diese Hand fest und fester gegen die Augen. Und die Wärme, die sie fühlte, schmolz die Starrheit hinweg – es war, als wenn das Blut, das sie in den Adern dieser Hand klopfen fühlte, ihr sagte: wir sind eins! Du stammst von mir! Ein Wesen, zu leiden wie ich!

Ihre Thränen begannen zu fließen, immer stärker und unaufhaltsamer. Ein Schluchzen ging zitternd durch ihre Gestalt. Sie fiel auf den Boden nieder, und ihre Hände unter der Stirn verschränkend, brach sie in wildes Weinen aus.

Hortense, die ihr schweigend zugesehen, neigte sich über sie und hob sie auf. Sie brachte die wie von Krämpfen durchbebte Gestalt auf das Sofa. Sie holte Wasser herbei und kühlte die heiße Stirn und die roten Augen. Sie ließ mit sanftem Zwang die Schluchzende Wasser trinken – die Zähne schlugen klappend gegen das Glas.

Dann nahm sie Magda in ihre Arme und hielt die allmählich in ohnmachtähnliche Erschöpfung Fallende still an sich.

Sie rührte mit keinem Fragewort an den Schmerz der verstörten Seele.

Aber wer jetzt in dieses Antlitz geschaut hätte, das sich über die Weinende beugte, der würde die schöne, vornehme, weltgewandte Frau nicht wiedergefunden haben. Neubelebt durch den Eindruck dieses tiefen edlen Herzenswehs auf ihr Gemüt, standen in ihren Zügen wieder deutlich zu lesen die Wahrheiten ihres Lebens. Und die hießen: unlöslicher Gram um einst verlorenes Glück, herbe Bitterkeit über menschliche Grausamkeit!

Wohl eine Stunde verging so.

Der Wärter des alten Ruhland kam mit einer Frage. Hortense winkte ihm Schweigen.

Sonst keine Störung und rings die Stille des Grabes.

Endlich regte Magda sich und schlug die Augen auf. Sie sah Hortense an.

„Es ist aus,“ flüsterte sie. Hortense nickte. Ihr brauchte Magda kein Wort zu erzählen, keine Silbe. Ihrer hellseherischen, schmerzerfahrenen Seele war es, als sei sie Zeugin gewesen.

So oder so – die Form, die vorgebrachten Gründe, ob er mit Brutalität oder mit Schonung den Schlag geführt, es war gleich – Hortense wußte, daß René seiner Braut gesagt habe, daß er sie verlassen müsse.

Magda setzte sich aufrecht hin.

„Er muß eine andere heiraten. Die Ehre, sagt er, gebietet es ihm,“ sprach sie.

Und wieder nickte Hortense. Sie dachte, welche andere das sei, und erschrak doch. Denn für so weitgehend, für so folgenschwer hatte sie die von ihr beobachtete Beziehung zwischen Lilly und René nicht gehalten.

„Wie schwer ist das zu verstehen!“ rief Magda plötzlich, wieder in Thränen ausbrechend.

„Mein liebes Kind,“ sagte Hortense und sah mit bohrendem Blick in das Licht der Lampe, „dies gehört zu den Dingen, die man nie versteht, weil sie außer aller Berechnung sind und weil sie mit keinen Gründen erklärt werden können. Sie gehören für ihn selbst, der ihr Opfer so gut ist wie Du, zu den dämonischen Ueberraschungen der Natur. Nur daß für ihn im Augenblick dabei die höchste Wonne und für Dich das schwerste Leid das Los ist. Wenn Du erst solange wie ich das Leben beobachtet hast, wirst Du mit Schmerz, doch ohne Erstaunen die Zerstörungen erkennen, die von der Leidenschaft hervorgerufen werden. Da verläßt ein großer, ernster, alternder Mann plötzlich die Gefährtin seines ruhmvollen Gelehrtenlebens, deren Sorgfalt und Liebe er allein den stets ungestörten Arbeitsfrieden und damit indirekt seine Erfolge verdankt; warum? Er wirft sich an eine junge, hübsche, gewöhnliche Person weg, über seinen Namen, sein Familienglück besinnungslos hinwegschreitend. Dort siehst Du eine Frau, die jahrelang pflichtgetreu und still ihren Kindern und ihrem Gatten lebte, ihrem Hause entlaufen, hinein in die Welt mit einem Mann, der sie vielleicht nach wenig Wochen schnöde verläßt. Männer und Mädchen siehst Du in das Elend, ja in den Tod gehen, wenn ihrer Vereinigung Hindernisse in den Weg gelegt werden von klugen Eltern, die voraussehen, daß die beiden zusammen unglücklich werden müssen. Sie alle empfinden es, bewußt oder unbewußt, daß das Wesen und Ende solcher Leidenschaften Unglück, Elend ist. Sie haben es hundertmal an nahen Beispielen gesehen und davon gelesen. Und sie trotzen allem! Der heiße, augenblickliche Wunsch, einander zu gehören, reißt sie über alles hinweg. Die Liebe, die Achtung, die solange und heilig jemand für eine andere gehegt hat, sind wie weggeblasen. Ja, selbst die Begriffe von Ehre und das Urteil über die Moral verschieben sich. Ein Mann verzeiht einem Weib, das er so begehrt, Schritte, Thaten, die er der höher Geachteten und früher Geliebten nie verziehen hätte.“

Sie seufzte schwer auf. Ihre Wangen waren blaß und ihre Augen glühten.

Alles erwachte in ihr, was sie einst selbst gelitten, als sie, die Vielbegehrte, Vielgeliebte, sich von dem Manne verlassen sah, der lange und heiß um ihren Besitz gestritten und sie dann um einer schalen, hübschen koketten Frau willen aufgegeben hatte.

„Aber es ist vergebens, sich zwischen zwei werfen zu wollen, die von solcher Gewalt zu einander gerissen werden. Die Natur läßt ihrer nicht spotten. Und dennoch, Magda – wer nur das feste, kalte Herz dazu hätte, der müßte bei solchem Ereignis gar nicht weinen. Denn ein Bau, der auf solcher Grundlage aufgebaut ist, zerfällt schnell genug. Die Besinnung kehrt wieder und damit die Kritik über sich selbst und die Gefährtin dieses Bundes. Ich habe noch nie einen Mann dauernd glücklich gesehen, der ein Weib so verlassen konnte. Er hat die Elemente zu immer neuen Leidenschaften und immer neuen Enttäuschungen in sich.“

Ein triumphierendes Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie gedachte des zerfahrenen Lebens des Mannes, um den sie gelitten, den sie vielleicht immer noch liebte und um dessen willen sie nicht wieder geheiratet hatte. In ihrer kurzen Ehe war sie nicht sonderlich glücklich gewesen und dann, als junge Witwe, hatte sie gedacht, in jenem Mann das Glück zu finden.

Sie sprach kaum mehr für Magda, sie sprach für sich. Das jahrelang verschlossen Gehaltene kam heraus.

„Und doch – woher sollte man wiederum das Recht nehmen, zu verdammen? Die Natur hat dem Weibe andere Fähigkeiten gegeben als dem Manne und die schönste derselben ist das Verzeihen! Eine liebende Frau, die das weiß, die müßte sich immer sagen: es ist klüger, die Schleier über den letzten Abgründen der Mannesseele nicht zu lüften. Wenn sie weiß, daß er tüchtig ist, und wenn sie weiß, daß er ehrlich ist, sollte sie tapfer ihn ertragen, wie er sie erträgt. Jeder achte die Art des andern.“

Das hatte sie sich hundertmal gesagt, als es für sie – zu spät gewesen.

Magdas Seele blieb an dem Wort „Verzeihen“ hängen.

„Ich weiß nicht, ob ich verzeihen kann. Ich weiß nicht, ob ich zürne. Ich weiß nichts,“ sagte sie, „es ist über mich gekommen wie ein Schreck, dem ich nicht entrinnen kann. Und ich kann nicht aufhören, ihn zu lieben.“

Sie weinte linder.

„Du wirst gerächt werden,“ sprach Hortense, „er wird bald genug mit dieser Lilly unglücklich sein. Schon die Kämpfe, die er um sie wird führen müssen, werden seinen Stolz beleidigen. Die alte Wallwitz wird die Ehe, die ihr sicher nicht standesgemäß erscheint, nicht ohne weiteres zugeben. Und Lilly selbst – ich kann mir gar nicht denken, daß sie es unter einer sieben- oder neunzackigen Krone thut – es paßt so gar nicht zu ihr. Jedenfalls wird sie, nachdem das erste Glück verflogen ist, ihn mit Unzufriedenheit und Sensationslust quälen, dafür kenne ich sie. Und meine Menschenkenntnis trügt mich selten.“

„Nein,“ rief Magda, von neuem in Thränen ausbrechend, „das laß mich nicht denken, daß all mein Jammer nicht einmal für sein Glück notwendig war. Wenn ich leiden soll, so will ich es für ihn zum Heil – nicht aber zu seinem Unglück.“

„Gott weiß, ob er nicht eines Tages wieder kommt,“ sagte Hortense.

Magda starrte vor sich hin.

„Ich soll ihm eine Schwester sein,“ murmelte sie. „Er bat mich darum. Ich weiß nicht, ob ich es kann."

Sie erhob das Haupt und sagte fester: „Das eine aber weiß ich, ich könnte sein Weib doch nicht mehr werden. Ich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 760. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_760.jpg&oldid=- (Version vom 26.7.2023)