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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Seine Züge waren wie verklärt, seine Augen geschlossen.

Magda fand keinen Schrecken in diesem Anblick. Der vollkommene Friede, der über dieser Leidensgestalt schwebte, nahm ihr jedes Grauen.

Er aber atmete immer sachter. In seinem Ohr war ein feines fernes Singen und Klingen, so seltsam, als käme es von den Fiedeln und Flöten, die von den Märchenwesen auf dem Bild „Frühlingsstimmen“ gespielt wurden. Sie nahten sich jetzt seinem Lager, er sah sie alle deutlich mit ihren steilen Linien und ihren blassen Körperchen, und all die Augen, die er gemalt, sahen ihn an – fremde, wunderliche Augen mit abgrundtiefem Blick.

Er wollte es Magda sagen, aber der Wille dazu verschwamm ihm. Die Sommernacht trat zu ihm und küßte ihn auf die Stirne, er sah ganz deutlich durch ihre dunkle transparente Gestalt hindurch. Und es war ihm, als sähe er in die Ewigkeit hinein. Wie lange blaue Lichtbänder spann sich ein Farbenstrom von ihm aus und hinein in die Unendlichkeit. Er folgte diesem Strom, es war, als wenn er auf ihm dahin schreite, und schnell und leicht, wie Menschenfüße sonst nicht schreiten. Und dann sah er fern und ganz klein am Ende einen gelb leuchtenden Punkt. Es schien wie ein Thor und gelbe Lichtfluten quollen heraus. Eine große Sehnsucht kam ihm, durch dieses Thor eingehen zu dürfen.

Plötzlich schreckte seine Seele auf. Eine jähe Angst befiel ihn. Es schien aus seiner Brust etwas herauszuquellen, daran er ersticken sollte. Er riß die Augen auf.

Sein Blick erkannte mit letztem aufblitzenden Bewußtsein Magda.

Sein Gesicht färbte sich dunkel – kurze Schreckenssekunden lang. Dann erblaßte es wieder und ein tiefer, tiefer Atem entfloh den Lippen. Sie sogen keinen neuen wieder ein.

Auf dem bleichen Gesicht stand ein Lächeln. Nicolai war tot.

Er war zurückgesunken in die große, ewige Stille, aus der das Leben kommt und in die es geht.


9.

Am Dienstag abend mit dem letzten Zuge war René aus dem Wirtshaus zum Posthorn nach Leopoldsburg zurückgekehrt. In den Taschen seines Mantels steckten Papierbündel, die sich mit den seltsamsten nur ihm verständlichen Hieroglyphen bedeckt zeigten. Seine Gedanken waren mit völligster Sammlung auf seine Arbeit gerichtet, wieder einmal gingen die Erscheinungen und der Lärm der Außenwelt eindruckslos an ihm vorüber. Der Egoismus der künstlerischen Schaffensfreude hatte sich seiner in solchem Grade bemächtigt, daß er nur flüchtig dachte, er wolle Magda erst aufsuchen, wenn er sein Werk beendet habe. Da seine Phantasie dies Werk nun beinahe ganz umfaßte und jedes Wort, jeder Ton fertig vor ihm stand, so blieb ihm also nur noch die technische Arbeit des Niederschreibens. Und in einer ganz merkwürdigen Täuschung, die ihm daraus erwuchs, daß er in einer reichen, einheitlichen Stimmung bei solcher Arbeit blieb, kam es ihm vor, als sei das nur eine ganz kurze, schnell erledigte Sache, die ihn nicht lange von Magda fernhalten werde. Daß sie solches Fernbleiben als neuen Schmerz empfinden könnte, fiel ihm gar nicht ein. Denn der Grund war der heiligste und wichtigste, den es für einen Mann geben kann: eine Arbeit, in welcher er sein Können vollkommen auszusprechen hoffte.

Noch mit dem Hut auf dem Kopf und den Mantel auf den Schultern setzte er sich in seiner Wohnung an den Schreibtisch und bat Herrn von Rechenbach, bei Seiner Hoheit Fürsprache einzulegen, daß man ihm kurze Muße und Freiheit gäbe zur Vollendung seines „Filippo Lippi“. Er war ganz sicher, morgen darauf die Antwort zu empfangen, daß Seine Hoheit ihm bestes Gelingen wünsche und dringend bäte, er möge alle Dirigentenpflichten so lange ruhen lassen, bis das Werk vollendet sei.

Dann gab René sich einem wahren Wonnegefühl hin und genoß die freudige Arbeitsstille der kommenden Tage schon vorweg. Er kramte sein Arbeitsmaterial zurecht und glättete und ordnete die merkwürdigen Blätter, die er aus dem „Posthorn“ mit heimgebracht. Dabei kam ihm die Post zu Gesicht, die seit zwei Tagen eingelaufen war und die seine Wirtschafterin unter einem riesigen Briefbeschwerer so gut aufgehoben hatte, daß sie fast versteckt geblieben wäre, wenn René nicht eben den Briefbeschwerer für die losen Blätter gebraucht hätte.

Ein Brief von Magda? Etwas wie Unbehagen überflog ihn. Gewiß eine Antwort auf seinen Brief aus dem „Posthorn“. Sie würde sich nun vielleicht lang und breit über die Sache aussprechen, die für ihn schon wie ein Stück Vergangenheit war, an das man sich um keinen Preis mehr erinnern lassen möchte. Sein scheuer und leicht beleidigter Stolz rettete sich am liebsten hinter Schweigen – da war er am sichersten, daß man seine Wunden nicht anrührte.

Er wog den Brief in der Hand und dachte einen Augenblick daran, ihn gar nicht zu öffnen. Aber dann fiel ihm ein, daß Magda ihn nie mit zudringlichen Erörterungen gequält und daß wahrscheinlich in diesen Zeilen nichts zu lesen sein werde als das jubelnde Glück, ihn wieder zu haben. Er bat Magda seine kurze, selbstische Aufwallung ab und erbrach den Brief mit zärtlicher Behutsamkeit.

Seine Augen wurden groß und auf seine Stirn trat eine Zornesfalte.

Was schrieb sie da? – Ihm fehle Willensstärke – und sie müßten sich entsagen –

Er warf den Brief hin. Seine Lippen schlossen sich fest. Er stand wie angewurzelt und starrte vor sich hin.

Mit einem Mal lachte er auf, fröhlich und gut, wie jemand, der sich durch ein Phantom hat erschrecken lassen und beim Näherkommen nun sieht, daß das drohende Gespenst eine ganz natürliche Erscheinung ist.

Die kurze Trübung seiner königlichen Laune war verflogen. Von dem sonnigen Reichtum, der in seiner Seele war, konnte ihm heute niemand etwas rauben. Er setzte sich gleich hin und schrieb an Magda:

„Du Geliebte, Thörichte! Ich soll Dir entsagen? Das wäre ja, als sollte ich nicht mehr dirigieren und nicht mehr komponieren! Und fühle doch eben in allen meinen Nerven, daß ich Willen und Kraft zur That habe. Und durfte doch gerade in den letzten Tagen erkennen, daß Du ein Stück meines Lebens bist. Zürne den Leiden und Erregungen nicht, die uns erschütterten, sie haben uns bewiesen, was Täuschung und was Wahrheit ist.

Du wirfst mir den Mangel an Willensstärke vor, mein Kind. Ein hartes Wort. Gewiß kann Willensstärke Gefahr vermeiden, nur ist es so: man wittert nicht die Gefahr und meint nicht, daß der lustige, prickelnde Scherz uns locken und weiter locken kann, bis er uns mitten in eine unerwünscht ernste Lage hineingebracht hat. Wüßte man immer vorher, wohin das fiebernde Blut, die dämonische Neugier uns führen wird, so gäbe es nur tugendhafte Menschen und glatte Lebensbahnen.

Du meinst wohl, der Wille eines Menschen wie ich sollte einem Eisengitter gleich sein Temperament umschranken? Freilich, Herzensliebste, dann wäre der Löwe gefangen und unschädlich – aber er verliert auch seine königlichen Eigenschaften – die herrschenden und die schaffenden. Ich hoffe, diese letzteren zu entwickeln, zu bethätigen. Laß mir meine Art. Ich leide selbst am schwersten durch alles, was ich nachher bei kaltem Verstand nicht billige. O Du, das sind harte Strafen, die das Selbstgericht verhängt – – ich leide, weil ich Dich leiden machte. Aber es sei nun vorbei! Vielleicht ist es eine Begleiterscheinung des Künstlertums, sich innerlichst unversehrt und unberührt, immer wieder wie ein Phönix aus allen Flammengräbern erheben zu können.

Wenn ich fertig bin mit dem, was vor mir liegt – Du weißt von meinem Werke – dann küsse ich Deine Augen, bis wieder Liebeslicht in ihnen ist. Dein René.“  

Nachdem René mit glücklichem Gesicht diese Zeilen beendet, fiel ihm ein, daß er sie nicht in den Briefkasten werfen, sondern sie morgen durch seine Wirtschafterin hintragen lassen wolle. Und ein großer Strauß von Frühlingsblumen sollte dabei sein – der sollte sie anlachen und ihr ein wenig von der hoffnungsfröhlichen Stimmung hinbringen, die ihn durchglühte.

O, wie wollte er sie entschädigen für die ausgestandenen Leiden! Ein Liebesfest sollte ihr dieser Winter werden, und wenn sein Werk erfüllte, was er davon hoffte, dann wollte er es ihr widmen und auf der ersten Seite sollte zu lesen sein: „Meiner teueren Magda“. Alle Welt sollte es hören – und in dieser Welt die Eine, Tiefverachtete ganz besonders – daß Magda ihm die Höchste war.

Sein Geist kam während der Nacht kaum zur Ruhe vor Arbeitsungeduld.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 808. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_808.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)