Seite:Die Gartenlaube (1895) 826.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Die Vorfahren unserer Weihnachts-Schauspiele.

Von Alexander Tille. Mit Illustrationen von Peter Schnorr.

Der Aufschwung, den neuerdings die Gattung der Weihnachts-Märchenspiele genommen und von welchem in der letzten Weihnachtsnummer der „Gartenlaube“ die Rede war, richtet unwillkürlich den Blick auf die früheren Zeiten, in denen der Ursprung des Brauchs, das Christfest in Bühnenbildern zu feiern, gesucht werden muß.

Wo im 9. Jahrhundert die ersten deutschen Weihnachts-Schauspiele aus dem Dunkel treten, da führen sie uns mitten hinein in die Kultusstätten der neuen Religion, die unter den rheinischen Germanen eben erst festen Boden zu gewinnen suchte. Noch ist Epiphanias der höchste kirchliche Festtag des ganzen Winters, der Gedenktag der Erscheinung des neugeborenen Gottes in göttlicher Herrlichkeit; noch weiß das Volk nichts von einer deutschen Weihnacht, noch kennt es kein Jesusgeburtsfest, kein Kinderfest um Mittwinter, kein Fest in den Tagen der Wintersonnenwende; noch steht es der fremden Religion, die aus dem römischen Süden gekommen, innerlich fremd gegenüber, wenngleich das Taufwasser die meisten Häupter befeuchtet hat und die meisten trotzigen Nacken sich vor den fremden Bischöfen gebeugt haben. Noch liegt ihnen der Gedanke fern, um Wintersmitte, wenn draußen Schnee und Eis die Fluren deckt und es kaum ein Drittel des ganzen Tages hell ist, ein Fest zu feiern. Noch wagen selbst die kühnsten Apostel der neuen Religion nicht daran zu denken, daß nach einem Jahrtausend das Jesusgeburtsfest der Kirche am 25. Dezember, dem neben dem glänzenden Erscheinungsfeste am 6. Januar nur eine ganz bescheidene Stelle zukommt, zum glänzendsten Winterfeste, zum Volksfeste, zum deutschen Kinderfeste geworden sein könnte, das so tief in der Anschauung der Lebenden wurzelt, daß die Gelehrten dasselbe nur durch die Existenz eines germanischen Wintersonnwendfestes erklären zu können meinen und ein solches ihren Vorfahren andichten. Noch gilt es vor allem, die Herzen dem neuen Glauben zu gewinnen, und dazu reicht bei einem Naturvolke, das im Sinnen und Denken noch träge ist, die reine Lehre nicht aus, dazu braucht’s Bilder und Klänge, das Wort des Dichters und die Kunst des Darstellers, ein buntes Geschehen in leuchtender Pracht, weiche einschmeichelnde Musik und wunderbare Vorgänge.

Im hellen Lichterglanze strahlt die weite Domkirche und hundertköpfig harrt die Menge, während ein leises Singen vom Chore niedertönt. Da wenden sich die Köpfe nach der Pforte am rechten Seitenaltare: in Königspracht schreitet aus ihr eine ernste Schar. Voran ein Herr mit gekröntem Haupte und langem Mantel, hinter ihm Diener, reich beladen mit Geschenken. In feierlichem Zuge geht’s nach dem Mittelgange zu. Die Köpfe wenden sich: noch prächtiger gekleidet und noch reicher ausgestattet, naht von links eine gleiche Schar, und noch ehe diese ein paar Schritte durch die Menge gemacht, taucht hinten eine dritte auf. Die Menge bestaunt den Pomp und Lichterglanz, aber ehe sie sich noch recht besinnen kann, erhebt der Führer der Mittelschar die Hand, deutet nach dem leuchtenden Stern, der über dem Altarplatz strahlt, und spricht feierlich:

„In sonnenhellem Glanze strahlt der Stern!“

Von rechts kommt Antwort:

„Der als geboren verkündigt den Herrn der Herrn!“

und von links tönt der Schluß:

„Dessen Kommen dereinst Weissagungen verkündigt.“

Indessen nahen sich die drei Scharen; vor dem Altar treffen sie sich, die sich Begegnenden küssen sich und singen:

„Laßt uns gehen, ihn suchen, und rotes Gold,
Weihrauch und Myrrhen ihm bringen als Sold.“

Da teilt sich ein Vorhang, und den erstaunten Blicken bietet sich das Bild einer Krippe dar, in der ein Kind ruht vom Glanze göttlicher Herrlichkeit umstrahlt. Die Könige knieen nieder und bringen dem Kinde ihre Geschenke. Der Chor setzt ein, und der Gottesdienst ist zu Ende.

Die Menge versteht die lateinischen Worte nicht, aber sie hat das dunkle Gefühl, daß da etwas Großes, Geheimnisvolles vorgeht, daß die Könige in den prächtigen Gewändern mit all ihrem Reichtum sich nicht umsonst vor einem Kinde beugen, sie ist sich nicht bewußt, daß sie nur ein Schauspiel sieht, sondern sie hat wirkliche Könige kommen und das Kind anbeten sehen: wie sollte sie da nicht das Gleiche thun? Und von der Macht dieses Eindrucks erregt, drängen sich die Hunderte zur Wiege, knieen nieder und spenden dem neuen Gotte, der Wuotan, Donar und Ziu entthront hat, ihre Gaben.

Das ist das älteste deutsche Weihnachtsspiel.

*  *  *

Ein halbes Jahrtausend ist ins Land gegangen. Hat sie auch die deutsche Volksart nicht in ihr Gegenteil zu verkehren vermocht, so triumphiert die neue Religion doch äußerlich über die Reste germanischer Weltanschauung und germanischer Sitte. Ist sie auch noch nicht imstande gewesen, ihr Jesusgeburtsfest zum Volksfeste zu machen und ihm Eingang zu schaffen in die Burgen und Hütten, so hat sie doch die Freude am dramatischen Spiel richtig als das erkannt, womit man den Massen einen Tag als Festtag aus der Menge der Arbeitstage herausheben kann. Noch immer besteht die Weihnachtsfeier im wesentlichen im Weihnachts-Schauspiel; aber es ist nicht mehr das alte rein kirchliche Spiel. Die deutsche Volksart hat begonnen, es aufzusaugen und umzubilden in der Richtung ihres eigenen tiefsten Wesens. Volkstümlich, deutsch werden die Gestalten der heiligen Sage. Aus dem Zimmermann von Nazara, der vordem nur ein Typus gewesen, wird ein gebrechlicher Greis, aus der Jungfrau Maria ein blühendes, junges Weib mit rosigen Wangen, und diese Gestalten treten herein in die Verhältnisse und die Umgebung eines deutschen Fleckens, in deutsches Wetter und deutschen Winter, deutschen Volkshumor und deutsche Volksderbheit, deutschen Brauch und deutsche Anschauungen. Kaum aber begann das Weihnachtsspiel sich national zu entwickeln, indem es lustige possenhafte Scenen, deutsche Lieder und Scherze aufnahm und auch in seiner Sprache deutsch wurde, da versuchte die Kirche den Entwicklungsfaden abzuschneiden, den sie selbst angesponnen hatte, da entzog sie ihm seinen alten Schauplatz, indem sie es aus den Pforten der Kirche hinauswies. Das Weihnachts-Schauspiel aber wanderte ins Wirtshaus oder ins Rathaus, ja wenn die Wintersonne nur freundlich über Schnee und Eis glitzerte, daß die Dächer in ihren Strahlen widerschienen, auch hinaus auf den offenen Markt, auf den ebenen Plan, oder auf ein Brettergerüste.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 826. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_826.jpg&oldid=- (Version vom 23.7.2023)