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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Sie seufzte ein wenig und sah in den grauen Himmel über uns.

„Ich weiß, wie allens kommt!“ fuhr sie dann fort. „Vater geht in den Wald und will bloß die Zweigens abslagen und denn sieht er ein Reh und denn slachtet er das. Und denn kommt die Pollerzei und all die slechten Menschens und denn sitzt er Weihnachten in ’n Loch!“

„Hast Du einen Weihnachtsvers für ihn gelernt?“ fragte ich; sie beachtete aber meine Worte nicht.

„Wenn es Ostern wär’, oder Pfingsten, denn wär’ es mich einerlei; da is es nich mehr so dunkel und die andern Kinners snacken nich mehr so viel von Weihnachtsbäumens und von Aufsagen, abers nu –“

Dörthe wischte sich die Augen und ich sah sie ratlos an.

„Hast Du Deinem Vater nicht gesagt, er solle bei Dir bleiben?“

„Nu, ganz gewiß! Abers Ahrens wird bös, wenn er die Zweigens nich kriegt. Zwei Jahr haben wir die Miete nich bezahlt, weil daß Vater immer so in Rückstand war!“

„Dann mußt Du den lieben Gott bitten, daß Dein Vater kein Reh tot macht, wenn er in den Wald geht!“ riet ich und Dörthe wandte sich nachdenklich zu mir hin.

„Das kann angehen! Ich will ihm bitten, daß die Rehens vordem alle tot bleiben oder von den Grafen geslachtet werden. – For die Zweigens kriegt er ja bloß wenig Gefängnis!“

Sie lief weiter und mir fiel ein, daß ich nicht mit ihr hatte sprechen wollen. Gottlob hatte mich aber niemand gesehen, und da außerdem andere Gedanken mein Herz erfüllten, so vergaß ich diese Unterredung so bald, daß ich sie nicht einmal Jürgen mitteilte. Es waren nämlich nur noch acht Tage bis Weihnachten und die prickelnde, sonderbare Unruhe kam über uns, die jedes Kind kennt. Wir mochten nicht mehr sehr lange auf einem Stuhl sitzen und am liebsten liefen wir auf der Straße herum und besahen die bescheidenen Weihnachtsausstellungen unseres Städtchens.

Außerdem empfanden wir noch die Sorge über das Ausbleiben unseres Tannenbaumes. Der sollte mit dem Schiffer kommen, der um die Weihnachtszeit mit seiner Jacht nach Lübeck fuhr und die herrlichsten Sachen mitbrachte. Aber bis dahin war Schiffer Lafrenz noch nicht in unseren Hafen eingelaufen. Das kam daher, weil der Wind die ganze Zeit „konträr“ gewesen war, wie uns die Sachverständigen sagten, aber diese Erklärung beunruhigte uns, anstatt uns zu beruhigen. Wir kannten Geschichten von Leuten, die drei Wochen auf der Ostsee bei „konträrem“ Winde gekreuzt hatten ohne ihr Reiseziel zu erreichen, und die dann schließlich wieder unverrichteter Sache nach Hause gefahren waren. Erlebt hatten wir solche Sachen nicht, aber man hatte uns so oft die Abenteuer einer Seereise in alten Zeiten berichtet, daß wir das Schiff mit unserem Tannenbaum schon im Geiste bei Finnland im Eise eingefroren sahen. Die großen Leute suchten uns die Befürchtungen auszureden; wir aber fühlten uns doch verpflichtet, jeden Tag an unseren kleinen Hafen zu laufen und dort Erkundigungen nach „Anna Kathrin“ einzuziehen. So hieß die Jacht vom Schiffer Lafrenz und es war ein schönes Schiff, nur daß sie sehr schaukelte, selbst wenn es gar nicht nötig schien.

Am Sonntag vor Weihnachtabend war köstliches Wetter. Gerade so, als wenn die Sonne sich einbildete, Weihnachten überschlagen zu können. Sie schien wie im Frühjahr, und als wir am Vormittag aus der Kirche kamen, da beschlossen wir, sofort wieder nach dem Hafen zu gehen und uns nach der „Anna Kathrin“ zu erkundigen.

Als wir am Hause von Meister Ahrens vorübergingen, da stand dieser vor der Thür und hielt einen Tannenbaum in der Hand. Es war natürlich ein falscher und seine Zweige waren gar nicht mehr frisch.

„Wo hast Du die Zweige her, Meister Ahrens?“ fragten wir. „Das ist kein schöner Tannenbaum geworden!“

Der Tischler antwortete nicht viel, sondern murmelte nur einige verdrießliche Worte, worauf einer der älteren Brüder berichtete, daß das Geschäft mit den Tannenzweigen auch dieses Jahr flau sein sollte. Da wäre niemand mit guten Tannenzweigen an die Insel gekommen und auch die falschen Tannen sollten teuer sein. Wir andern seufzten ein wenig bei dieser Erzählung und dann strebten wir eilig dem Hafen zu, um uns nach der „Anna Kathrin“ die Augen auszuschauen. Aber alles Lugen half nichts – die dickbauchige Jacht schaukelte weder am Bollwerk, noch war ihr geflicktes Segel irgendwo am Horizont zu erblicken.

Nachdem diese Thatsache festgestellt war, verließen die älteren Brüder uns, um einen Freund zu besuchen, dessen Onkel im Besitz eines Fernrohres war, und das dazu dienen sollte, die „Anna Kathrin“ etwas schneller herbeizusehen. Wir Kleineren gingen etwas schwermütig an den Strand und suchten uns dadurch aufzuheitern, daß wir flache Steine ins Wasser warfen. Bei dieser Gelegenheit entdeckten wir ein Boot, das an einen etwas abseits stehenden Pfahl angekettet war. Beide Ruderpatten lagen darin und dieser Umstand schien uns so verlockend, daß wir sofort hineinkletterten und zu rudern begannen.

Das Boot war außerordentlich schlecht, die Sitze morsch und die Bretter des Fahrzeuges schienen kaum noch zusammenzuhalten. Wir schaukelten aber sehr vergnügt darin und Jürgen sagte, er könne rudern und nach Holstein fahren, dessen Küste am Horizont dunkel auftauchte. Er konnte es natürlich nicht und, während wir uns um die Ruder zankten, glitt das eine ihm aus der Hand und fiel ins Wasser.

Vergnügt schwamm es davon, während wir ihm ziemlich dumm nachblickten, und als Jürgen mit dem andern Ruder den Flüchtling wieder zu erwischen dachte, ging diese Stange ihm auch aus der Hand.

Ein kräftiger Fluch ertönte vom Lande her und ein Mann in großen Wasserstiefeln zog nicht allein unser Boot ans Land, sondern trat mitten ins Wasser, um die eine Stange wieder zu greifen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 835. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_835.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)