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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


Der Klageschrei.

Eine türkische Geschichte von Rudolf Lindau.
(Fortsetzung.)


Eines Tages, als Murad wie gewöhnlich auf dem Wasser lag und fischte, während Ali Bey am Ufer geblieben war, um ungestört seinen trübseligen Gedanken nachhängen zu können, bemerkte der Zwerg einen Kaïk, dessen Führer sich vergeblich abmühte, gegen die starke Strömung an der Seraïspitze aufzukommen. Das Boot näherte sich dem Ufer, augenscheinlich um dort Hilfe zu suchen, und als der Schiffer den müßigen Ali Bey im Anzuge eines Hafenarbeiters erblickte, rief er ihn an: „He, Bruder! Wirf mir Dein Seil herüber!“

Der Zwerg erhob sich lässig und legte das Seil, das er in einen weiten Ring geschlungen über Schulter und Brust getragen hatte, regelrecht zusammen. Wie er nun, um es dem Bootsmann zuzuwerfen, sorgfältig zielend aufblickte, erkannte er in dem Fahrgast des Kaïk den Sultan, der, als Kaufmann verkleidet, von einem der Ausflüge zurückkam, die er in seiner Hauptstadt zu machen liebte, um auf den Straßen und in Kaffeehäusern Menschen und Sitten aus unmittelbarer Nähe beobachten zu können. – Ali Bey kannte diese Liebhaberei des Sultans, auch daß dieser sich, um von einem entfernten Stadttheile nach dem Palast zurückzukommen, häufig eines gewöhnlichen Kaïk bediente. Gerade weil Ali das wußte, hatte er die Seraïspitze zum Aufenthaltsort gewählt. – Die plötzliche Erscheinung des Sultans brachte ihm keine Ueberraschung, auf die er nicht vorbereitet gewesen wäre, und er verstand es, seine Ruhe vollständig zu bewahren.

Nachdem die von Ali Bey geworfene Leine vom Schiffer aufgefangen und am Vordertheil des Kaïk befestigt worden war, legte Ali sie sich über Schulter und Brust, und mit weit vorgebeugtem Oberkörper, wie es die Art der Arbeiter ist, die ein Fahrzeug gegen den Strom schleppen, schritt er langsam vorwärts. Es war ein heißer Tag. Der laue Südwind machte die Luft drückend schwer. Dem keuchenden Zwerg, der wohl sehr stark, doch nicht an harte Arbeit gewöhnt war, lief der Schweiß von Stirn und Wangen. Aber er schritt ohne zu rasten weiter. Endlich wurde die Last, die er zog, leichter. Das Boot war in ruhiges Fahrwasser gelangt und bald hörte er den Ruf des Schiffers: „Halt, Bruder! Hier wollen wir aussteigen.“ Der Kaïk befand sich gerade gegenüber der kleinen Pforte, an der Murad seine Fische abzuliefern pflegte.

Dic Leine wurde vom Kaïk freigemacht, und während Ali sich anscheinend aufmerksam damit beschäftigte, sie wieder zusammenzulegen, schwang das kleine Fahrzeug heran und kam mit dem Hintertheil so zu liegen, daß der Fahrgast bequem landen konnte. Darauf stellte sich Ali, wie es Gebrauch ist, neben den Kaïk und hob den gebogenen Arm in die Höhe, um dem Fahrgast beim Aussteigen eine Stütze zu bieten. – Der Sultan hatte Ali Bey sofort erkannt, aber es beliebte ihm, dies nicht zu zeigen. Er legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den ihm dargebotenen Arm, und als dieser sich trotzdem nicht senkte, sagte der Sultan: „Dein Gewerbe scheint die Menschen stark zu machen. Treibst Du es schon seit langer Zeit?“

„Ich treibe es erst seit kurzem … auf Befehl meines zweiten Vaters.“

„Deines zweiten Vaters?“

„Ich nenne ihn so, weil er mir das Leben schenkte, als ich mein jetziges Alter erreicht hatte.“

„Und er befahl Dir, Boote um die Seraïspitze zu ziehen?“

„Er entließ mich aus seinen Diensten und schenkte mir bei der Gelegenheit eine ganz neue, schöne starke Leine aus Hanf … um tote Hunde aus den Straßen in den Bosporus zu schleppen. – Nun konnte ich aber während des ganzen Tages noch keincn toten Hund entdecken, und da bin ich hierher gekommen, in der Hoffnung, irgend etwas anderes zu finden, dem ich Schleppdienste leisten könnte.“

„Einem lebendigen Sultan zum Beispiel.“

Da hob Ali Bey die Augen, die er bis dahin zu Boden geschlagen hatte, und blickte den Sultan gerade und fest an, wie er es nie zuvor gethan hatte. – Die Güte und Traurigkeit, die aus den Augen des armen Zwerges sprachen, rührten den Sultan.

„Du hast mir sehr gefehlt,“ sagte er leise. „Tritt Deine Dienste wieder an und melde Dich in einer Stunde bei mir.“

Damit wandte sich der Sultan ab und schritt langsam der Pforte zu, die nach dem Blumengarten des Sommerpalastes führte; aber gleich darauf blieb er stehen. „Was bedeutet das?“ sagte er erstaunt und deutete auf Murad, der vor der geöffneten Pforte stand und sich augenscheinlich mit jemand im Garten unterhielt.

„Ein Fischer, Effendimis, der seinen frischen Fang an eine Sklavin abliefert. Ich kenne ihn. Wenn Ihr einen Augenblick verziehen wollt, so werdet Ihr ihn zurückkommen sehen.“

So war es in der That. Der Sultan bemerkte, wie der junge Fischer einen leeren Korb in Empfang nahm und sogleich dem Ufer wieder zuschritt. – Als er dabei an Ali Bey vorüberkam, grüßte er diesen freundlich.

„Wer ist der junge Mann?“ fragte der Sultan, von Murads Anmut überrascht.

„Ein armer Jüngling, Effendimis; aber so schön und stark und gut, daß, wenn ich eine Tochter hätte, ich keinen andern als ihn zum Schwiegersohn haben möchte.“

Der Sultan lächelte dazu und sagte: „Man sieht wohl, daß Du keine Tochter zu verheirathen hast.“ Darauf entließ er Ali Bey und trat durch die Pforte, die auf sein Klopfen von einem Schwarzen geöffnet worden war, in den Blumengarten. Dort erblickte er in einer der schattigen Alleen die Prinzessin Scheriffeh, die in Gesellschaft zweier Sklavinnen lustwandelte. Scheriffeh war die Lieblingstochter des Sultans und sie verdiente diese Auszeichnung, denn sie war von unübertrefflicher Schönheit und gleichzeitig so milde und gut, daß eine jede ihrer Dienerinnen ihr Leben für sie hingegeben haben würde. – Als sie ihren Vater erkannte, näherte sie sich ihm, während die beiden Sklavinnen in ehrfurchtsvoller Entfernung zurückblieben.

„Bist Du krank, meine Tochter?“ fragte der Sultan, nachdem er Scheriffeh begrüßt hatte. – Das junge Mädchen war nämlich bleich und sah sehr traurig aus, als ob es geweint hätte.

„Ich habe einen großen Kummer, Herr Vater.“

„Du darfst mir davon sprechen.“

Darauf erzählte Scheriffeh erröthend und unter Thränen, wie der Zufall sie auf dem Bosporus mit Murad zusammengeführt habe und daß sie seit dieser ersten flüchtigen Begegnung nur noch an ihn denken könne.

Das Antlitz des Sultans verfinsterte sich. „So hast Du angeordnet, daß der Fischer täglich an der Pforte des Blumengartens erscheint?“ fragte er.

„Ich habe es angeordnet,“ antwortete Scheriffeh kaum hörbar.

„Es war unrecht von Dir,“ fuhr der Großherr unfreundlich fort; „Du verdientest strenge Strafe; auch die Sklavinnen, die Dir bei Ausführung Deines Vorhabens behilflich gewesen sind, haben sich eines schweren Vergehens schuldig gemacht.“

„Verzeiht ihnen, Herr Vater, ich bitte Euch darum. Sie waren meinen Wünschen gefügig, weil sie mich lieb haben. Die einzige Schuldige bin ich; laßt Euren Zorn nur mich treffen.“

Der Sultan blickte finster vor sich hin. Endlich sagte er: „Ich will verzeihen … Wenn der Fischer morgen erscheint, so sollen ihm seine Fische nicht abgenommen und es soll ihm gesagt werden, daß er sich nie wieder in der Nähe der Gartenpforte blicken lassen darf. Wäre er diesem Befehle ungehorsam, so würde er dafür mit seinem Leben büßen.“

Nachdem der Großherr diese Worte in strengem Ton gesprochen hatte, wandte er sich ab und schritt dem Palaste zu, während Scheriffeh ihr Antlitz mit den Händen bedeckte und leise weinte.

Am nächsten Tage zeigte sich Murad zur gewöhnlichen Stunde an der Gartenpforte, die ihm auch sogleich geöffnet wurde, nachdem er dort angeklopft hatte. Aber die Sklavin begrüßte ihn diesmal nicht mit freundlichem Lächeln, sondern sagte traurig: „Der Padischah hat von Eurer Artigkeit erfahren und ist erzürnt darüber. Ich darf Euch die Fische nicht abnehmen, und wir werden uns nicht wiedersehen. Nähert Euch dieser Pforte nie mehr; thätet Ihr es, so würde es Euer Tod sein … Der Himmel schenke Euch langes Leben, Glück und Segen!“

Murad antwortete ruhig: „Auf Euren Wunsch bin ich hier erschienen, auf Euern Wunsch meide ich fortan diese Stelle. Habet Dank für alle Freundlichkeit, die Ihr mir erwiesen.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0230.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)