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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Fragt man nun, in welcher Weise die Kommission ihrer schwierigen Aufgabe gerecht zu werden bestrebt gewesen ist, so hat sie gewiß auf allseitige Zustimmung Anspruch, wenn sie dem neuen Gesetzbuch keine von den bestehenden Rechtskodifikationen zu Grunde legte, sondern „das Recht aufbauen wollte nach Gründen der Zweckmäßigkeit, im Anschluß an die Traditionen, die im deutschen Volke vorwiegend walteten, ohne Bruch mit der Vergangenheit, aber auch ohne Liebhaberei für abgestorbene Dinge“. Daß das neue Gesetzbuch alle Wünsche befriedigt, ist unmöglich und wäre in jeder Fassung unmöglich gewesen. In der Wissenschaft stehen die Anforderungen der Anhänger des römischen und des deutschen Rechts einander zu schroff gegenüber; bei den Richtern sind vorgefaßte Meinungen für das so lange in Uebung gewesene System sehr erklärlich; außerdem kann ein das gesamte bürgerliche Leben beeinflussendes Gesetz aus den Verhandlungen und Bestimmungen einer parlamentarischen Körperschaft nicht hervorgehen, ohne durch die verschiedenen Parteistandpunkte berührt und gemodelt zu werden. Schließlich sind hier Kompromisse unvermeidlich, und die Wünsche der extremen Parteien können leicht prinzipiell so weit gehen, daß sie auch teilweise keine Berücksichtigung finden. Vielleicht giebt es daher nur sehr Wenige, denen das neue Gesetzbuch durchweg sympathisch ist. Aber es giebt wahrscheinlich auch nur sehr Wenige, die nicht anerkennen, daß es im ganzen besser ist als irgend eines der bestehenden Gesetzbücher im ganzen, daß es einen wirklichen und erheblichen Fortschritt bedeutet.

Das Gesetz ist in verständlicher Sprache abgefaßt. Damit soll nicht gesagt sein, daß Jeder sich nun mit Leichtigkeit wird daraus unterrichten können, wie er seine geschäftlichen Beziehungen einzurichten habe, ohne bei entstehendem Streit zu unterliegen. Noch ganz abgesehen davon, daß zur richtigen Würdigung des Einzelnen die Fähigkeit gehört, die Gesamtmasse der Vorschriften zu überblicken und das Besondere in Einklang mit dem Allgemeinen zu bringen, so ist auch dem Richter absichtlich ein weiter Spielraum gelassen, überall nach Billigkeit und vernünftigem Ermessen zu verfahren, den guten Glauben obenan zu stellen. Das gerade giebt aber eine gewisse Gewähr dafür, daß überall der rechtschaffen Handelnde auch zu seinem Recht gelangen wird.

Noch bleibt viel zu thun. Das Einführungsgesetz scheidet eine sehr große Zahl von Materien aus, welche den Landesgesetzgebungen vorbehalten bleiben, und es sind darunter einige, für welche ein gemeinsames deutsches Recht dringendstes Bedürfnis ist. Erwähnt seien nur das Verlagsrecht, das Versicherungsrecht, das Wasserrecht. Aber es ist schon jetzt dafür gesorgt, daß in der Gesetzgebung kein Stillstand eintritt. Das Bürgerliche Gesetzbuch schafft eine Grundlage, auf der nach allen Richtungen hin weiter gebaut werden kann und weiter gebaut werden soll. Hoffen wir, daß die Zeit nicht mehr fern ist, in der alle gemeinsamen deutschen Interessen auch ihre gemeinsame rechtliche Regelung gefunden haben werden. Jetzt ist wahrlich diese Hoffnung nicht mehr eitel!


Ragaz und die Taminaschlucht.

Von Dr. Otto Henne am Rhyn.0 Mit Bildern von P. Bauer.

Vorsprung der Grauen Hörner.       Gonzen. Alvier.  Fläscherberg. Luziensteig.       Falknis.      Augstenberg.      Scesaplana.

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  Ruine Wartenstein.
Blick auf Ragaz von Wartenstein aus.  

Wer wußte in der großen Welt vor fünfzig Jahren etwas von Ragaz im schweizerischen Kanton St. Gallen? Wenige außerhalb der östlichen Schweiz! Und heute trinken und baden sich dort Könige und Fürsten des Thrones, Könige und Fürsten des Geistes gesund! Ragaz ist durch eine Quellwasserleitung und durch einen sie benutzenden Unternehmergeist ein internationales Stelldichein, ein Weltkurort geworden. Es ist ein Sammelplatz der eleganten Welt zweier Hemisphären.

Wenn an einem schönen Sommertage, namentlich an einem Sonntage, der das obere Rheinthal hinauf fahrende Bahnzug auf der Station Ragaz Halt macht, entströmen ihm ganze Scharen von Vertretern der verschiedensten Nationen und Stände. Eine kleine Völkerwanderung bewegt sich zu Wagen und zu Fuß die eine halbe Stunde lange Straße zum Dorfe Ragaz entlang: vornehme Herrschaften in Equipagen, bequeme Reisende in Gasthofsomnibussen, auf beiden Trottoirs rüstigere Herren und Damen zu Fuß, Landleute der Umgegend in breitspurigem Schritte, darunter Blumenmädchen, sonnengebräunt und mit intelligenten, nicht unschönen Zügen, in der reizlosen Tracht des Landes: grauem Kittel ohne Mieder und weißen bauschigen Aermeln um den Oberarm. Je weiter der Zug schreitet, desto mehr verlieren sich seine Glieder in die anstoßenden Hotels, Restaurationen und Magazine, und schließlich zerstreut sich auch sein Rest auf dem Dorfplatze, bei der altertümlichen, aber mit einem neuen Turm prangenden katholischen Kirche, den hauptsächlichen Gasthöfen und dem geschmackvoll gebauten Dorfbade. Wir können ungestörter weiter wandern, überschreiten die Brücke, unter welcher die wild brausende und schäumende Tamina uns den ersten Gruß aus ihrer Schlucht bringt, und haben uns in wenigen Augenblicken aus der Hitze und dem Staub der Straße in den schattigen Kurpark geflüchtet. Ein wahres Eden, dieser Park, der eine kleine Stadt von imposanten Gebäuden umschließt, ein Zeugnis modernen Schöpfergeistes, der diese Anlage beinahe ganz aus dem Nichts hervorgezaubert hat!

Der „Hof Ragaz“, ihr eigentlicher Kern, war ehedem der Sitz eines Statthalters des Abtes von Pfävers, welchem das ganze Gebiet der heutigen politischen Gemeinden Ragaz und Pfävers als halbsouveränes kleines Fürstentum gehörte.[1] In der Revolutionszeit von 1798 bis 1803, welche die patrizischen und

  1. Man spricht: Ragáz, nicht, wie in Deutschland häufig, Rágaz. – Die Schreibart Pfävers ist die einzig richtige (in den ältesten lateinischen Urkunden Fabarias und Favares). Pfäfers ist falsch und Pfäffers noch falscher! Der Verf. 
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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 524. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0524.jpg&oldid=- (Version vom 26.3.2024)