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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

leicht eine falsche Beurteilung Platz greifen und zu einer recht unzweckmäßigen Erziehungsweise veranlassen kann. Die Reizbarkeit wird zunächst als vielversprechende Eigenheit aufgefaßt. Eltern und Lehrer fühlen sich zu den besten Hoffnungen in Betreff des Kindes berechtigt. Plötzlich aber verblaßt der Schimmer, und schwere Sorgen belasten das Elternherz. Anstatt aber die Kinder in derartigen Zuständen sofort zu schonen und einer sachverständigen Erziehung zu übergeben, hetzt man sie häufig mit Nachhilfe und sonstigen Privatunterrichtsstunden, mit Strafen und aufreizenden Strafreden ab. Bei solcher Thorheit, die oft genug aus unverständiger Eitelkeit das wahre Wesen des „begabten Kindes“ nicht erkennt oder erkennen will, ist es allerdings kein Wunder, wenn das arme Wesen mit der Zeit, völlig abgehetzt, mehr und mehr zurückgeht – wenn schließlich mit einem Male die Erschlaffung in ihrer ganzen Trostlosigkeit Eltern und Lehrern zum Bewußtsein kommt und das Kind unter das Mittelmaß herabsinkt.

Zu den ersten Anzeichen der eintretenden Schwäche gehören fehlerhafte Erscheinungen auf dem Gebiete des Gedächtnisses. „Neben leichtem Lernen steht ein promptes Vergessen.“ Vokabeln, Gedichte, Sprüche, oft spielend gelernt, haben keinen Halt, und das Kind ist schwer imstande, dieselben unterrichtlich zu verwerten. Mitten in der Antwort sogar halten solche Kinder nicht selten inne, weil es ihnen sozusagen dunkel im Bewußtsein wird. Auf die Wiederholung derartiger Zustände muß im Haus und in der Schule recht aufmerksam geachtet werden, weil man daraus mit Sicherheit auf eine gewisse psychische Schwäche schließen kann. Auch in der Rede und in der Schrift des Kindes ist dieselbe bemerkbar. Was man in gewöhnlichen Fällen als Leichtsinnsfehler, als Ruschelei, Flatterhaftigkeit, Zerstreutheit bezeichnet und dem Kinde stark übelnimmt, das ist unter Umständen krankhafte Schwäche. Die charakteristischen Merkmale derselben sind vor allem die Wiederholung, Umstellung, Vorausnahme und das Auslassen von Buchstaben (Lauten), Silben und Wörtern. Diese Erscheinungen treten bei den in Rede stehenden Kindern mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit auf und sind ganz anderer Art als die der bloßen Liederlichkeit, Faulheit und Zerstreutheit. Am bemerkenswertesten erscheint eine gewisse unrichtige Wiedergabe der Wörter in Aussprache und Schrift. Ihre Hauptmerkmale sind Umstellungen und Vorausnahmen der Silben und Laute (Buchstaben). Man spricht und schreibt Fausatz für Aufsatz, anhin für hinan, Pfred für Pferd, blald für bald u. s. w.

Ein eingehender Vergleich der geistigen Beschaffenheit ähnlicher Schmerzenskinder mit derjenigen der ausgesprochen Leichtsinnigen ergiebt als durchgreifenden Unterschied den Umstand, daß das psychisch schwache, aber aufgeregte Kind auch bei Aufbietung der äußersten Willenskraft jene Fehler nicht oder nur teilweise überwinden kann, während die Fehlerhaftigkeiten des Leichtsinns sofort verschwinden, wenn die Willensenergie aufgerüttelt wird.

Zu den psychisch zarten und unnatürlich erregten gesellen sich endlich Kinder, welche mit dauernder Geistesschwäche behaftet sind. Das sind die größten Schmerzenskinder für Schulen und Familien. Diese geistige Schwäche erstreckt sich manchmal nur auf das Gebiet der Verstandesthätigkeit, manchmal auch nur auf das Leben des Gemütes, gewöhnlich aber auf beide Gebiete gleich stark.

Der Unterricht in der Schule geht von der Anschauung, d. h. von der Erfahrung aus. Er läßt die Kinder etwas empfinden. Er läßt sie sehen, hören, tasten – redet eine dem Anschauungskreis des bestimmten Jugendalters angemessene Sprache, vermittelt dem Kinde klare Bilder und packende Handlungen und sucht auf allen Gebieten das Interesse des Schülers zu wecken und zu erhalten.

Den geistesschwachen Kindern bereitet dieses Verfahren große Schwierigkeiten, es fällt ihnen mehr oder minder schwer, eine eigene sinnlich auffällige Erfahrung oder eine Anschauung, eine einfache anschauliche Mitteilung und Belehrung so zu erfassen daß sie dieselbe deutlich im Bewußtsein behalten sprachlich aufnehmen und ihrem Bewußtseinsinhalt einverleiben. In der Schule bleiben sie zurück und sind nicht selten eine Zielscheibe des Spottes und Hohnes ihrer Kameraden trotz energischer Abwehr seitens des Lehrers. Welche inneren Regungen dadurch wach werden, und wie dadurch die geistige Entwicklung gehemmt werden kann, das läßt sich leicht ermessen, wenn man Gelegenheit hatte, das hohe Selbstgefühl mancher dieser Kinder kennenzulernen. Sie haben den besten Willen zum Lernen. Aber man sieht es ihrer krausen Stirn und dem schmerzlich verzogenen Mund an, wie schwer es ihnen fällt, ihr Bewußtsein auf einen Punkt zu richten. Nach kurzer Geistesthätigkeit tritt Ermüdung ein, so daß ihre Aufmerksamkeit schwindet. Mit offenem Munde und träumerischem Blick sitzen sie dann da, das Mitleid herausfordernd, das der geistig Arme verdient. Und arm bleibt ihr Geist, denn es steht außer allem Zweifel, daß bei solchen Erscheinungen die Kraft des Gedächtnisses ganz ungenügend sein muß. Man kann nur solche Vorstellungen erwecken, die mit ihrem lebhaften Interesse für ihre Person verknüpft sind. Hat man aber in dieser Richtung einmal nur eine glückliche Entdeckung gemacht, so kann unter Umständen eine kleine Steigerung und Belebung des geistigen Lebens und Könnens erzielt werden. Dabei gilt freilich keine Erziehungsschablone, hier heißt es, das Auge offen halten, beobachten! Auf Grund vielfacher pädagogischer Erfahrungen kann man sagen, daß nicht selten bei sonstiger geistiger Schwäche einseitige Fertigkeiten und Talente zu finden sind, und zwar besonders in Bezug auf mechanisches Rechnen, Gedächtnis für Zahlen und Namen, sowie Handarbeiten. Das ist ein gewisser Trost für die Eltern und ein Glück für die Kinder, weil dadurch für die Erziehung Angriffspunkte gegeben sind. Ein Knabe dieser Art, der Sohn eines strebsamen Postbeamten war für die Eltern ein rechtes Sorgenkind, weil nach Ansicht derselben „aus ihm nichts ordentliches werden könnte“. Allerdings mußte der Verfasser zugestehen, daß ein „Beruf“ der Federn dem Knaben verschlossen sei. Es konnte aber mit Befriedigung darauf hingewiesen werden, daß der Junge in der Handhabung der Instrumente, namentlich im geometrischen Unterrichte, sowie in der Herstellung der Körper für diese Lehrstunden eine hervorragende Geschicklichkeit entwickele. Die Eltern ließen ihm deshalb auf Anraten des Verfassers den Handfertigkeitsunterricht zu teil werden. Hier zeichnete er sich bald im Schnitzen derart aus, daß seine Arbeiten die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Es erwachte in ihm das Verlangen, Tischler zu werden. Sein Wunsch wurde ihm erfüllt und – soweit der Verfasser unterrichtet ist – zu seinem Glück.

Weit gefährlicher als die geistige Schwäche des Denkens und Urteilens ist die sittliche, die Schwäche auf dem Gebiete der Herzensbildung. Was schön, was wahr, was gut ist, das müssen die Kinder empfinden, das muß ihr Gefühl erregen, wenn dadurch wirksame Kräfte im Geistesleben des Kindes gebildet werden sollen. Es giebt aber leider Naturen, die weder bei der Betrachtung eines schönen Bildes, noch bei der Erkenntnis der Macht der Wahrheit, z. B. im Leben der Völker, noch bei der Darstellung einer edelmütigen Handlung von einem solchen Gefühl beseelt werden, daß dadurch die neugewonnene Vorstellung eine sittliche Kraft wird. Bei den sittlich schwachen Kindern ist diese Selbstzucht mehr oder minder ausgeschlossen. Die sittlichen Vorstellungen bleiben auf einer niedrigen Stufe stehen, die sittlichen Grundsätze bleiben arm, beschränkt, wenig lebendig und nachhaltig. Die unsittlichen Antriebe finden nur geringen oder gar keinen Widerstand, infolgedessen tritt eine egoistisch-sinnliche und widerliche Richtung der Gedanken und Wünsche hervor, und die so gearteten Kinder geben zu den größten Sorgen in Betreff ihrer Charakterentwicklung Anlaß.

Am schwersten sind diejenigen Kinder zu behandeln, bei denen sich geistige und sittliche Schwäche verbinden. Es möchte den Anschein haben, als seien diese Naturen zumeist recht passiv, recht stumpf. Da, wo Blödigkeit oder Schwachsinn vorliegt, ist das in sehr vielen Fällen nicht zu verkennen und nicht anders zu erwarten. Indessen giebt es unter den hier bezeichneten Kindern auch recht viele reizbare und zu Tätlichkeiten geneigte, weil bei ihnen zumeist eine Verwilderung des Trieblebens zu finden ist und die schlechten Triebe mit aller Energie sich nach außen entladen wollen. Gelingt ihnen das in wiederholten Fällen, dann ist es mit der Bildungsfähigkeit des Kindes bald vorbei, und eine Selbstsucht, die keine Rücksicht kennt, wird mehr und mehr die treibende Kraft in seinem Geistesleben. Tritt dann das väterliche Verbot oder der Zwang der Schule den ungestümen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_043.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)