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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

mit des Schreibens ungewohnten Händen einen langen Brief an den Doktor Ritter, abzugeben auf der königlichen Universitätsbibliothek.

Als Hans Ritter dieses Schreiben unter großer Bestürzung entziffert und bedacht hatte, wandte er sich sogleich brieflich an den Geheimen Sanitätsrat Doktor Leuxenberg; die gute Luise hatte zum Glück den Namen genannt, und Hans Ritter war kein ganz Fremder für den berühmten Arzt, dem er bei Beschaffung einiger seltenen medizinischen Werke bibliothekarisch behilflich gewesen war. Auch erwies sich der Geheime Sanitätsrat dafür nicht undankbar; denn trotz seiner vielen Amtsgeschäfte übersandte er umgehend die gewünschte vertrauliche Auskunft, zu der er sich verpflichtet fühlen mußte, nachdem er die edlen Beweggründe Ritters zu seiner Anfrage erfahren. Sie war nicht so lang wie Luisens Brief, aber Hans Ritter bedurfte noch mehr Zeit, um sie zu verstehen, denn der Geheime Sanitätsrat frönte der damals noch ziemlich verbreiteten Ansicht, daß die Handschrift eines Arztes gar nicht unleserlich genug sein könne, und der Brief bestand großenteils aus medizinischen und anatomischen Kunstausdrücken, zu deren Verständnis selbst die Sprachgewandtheit Hans Ritters nicht immer ausreichte.

Einige Stunden später meldete sich der Doktor Hans Ritter bei seinem Chef, der draußen vor der Stadt auf seinem Weingute Ferienruhe genoß. Es war kein großes Gut – nur ein schön und ziemlich hoch gelegenes Wächterhäuschen mit einem kleinen Stück Weinberg; der Professor Isaak Bernstein ließ es durch einen benachbarten Bauern bestellen und wenn die Trauben reif waren, zog er bei gutem Wetter alltäglich hinaus, um sie nach und nach aufzuessen, wobei er übrigens auch die Unterstützung werter Freunde und müder Wanderer nicht verschmähte.

Diesmal war er zum Glück allein. Er saß im milden Sonnenschein auf der Bank vor seinem Häuschen, gekleidet in einen langen schwarzen Hausrock von eigentümlich östlichem Zuschnitt und auf dem grauen, lockigen Haar ein schwarzseidenes Mützchen, und erbaute sich an der schönen Aussicht. In der linken Hand hielt er eine mächtige Weintraube, von der er mit Daumen und Zeigefinger der Rechten eine der großen, blauschwarzen Beeren nach der andern abzupfte und in den Mund steckte; einige abgelesene Traubenskelette am Boden zeugten davon, daß er diesem angenehmen Zeitvertreib schon eine Weile huldigte. Sehr freundlich und teilnehmend begrüßte der Professor Isaak Bernstein seinen Gast, nachdem er die Traube weggelegt und sich die kleinen, schöngeformten Hände sehr sorgfältig mit dem rotseidenen Schnupftuch abgewischt hatte.

„Ein schöner Tag heute,“ sagte er, „ein fröhlicher Tag, still und gesegnet, wie er einem alten Mann gut thut! Aber Sie sehen nicht so fröhlich aus wie der Tag. Nun, was ist’s denn lieber Kollege?“

„Herr Professor,“ begann Hans Ritter, „Sie sagten mir unlängst, daß man an vorgesetzter Stelle beabsichtige, den hiesigen Bibliothekstab um mehrere definitiv angestellte Beamten zu vermehren. Glauben Sie, daß ich Aussicht haben würde, dabei zu avancieren, falls ich auf die akademische Laufbahn verzichte?“

Isaak Bernstein blickte ihm gespannt ins Gesicht. „Nun,“ sagte er zögernd, „was soll ich sagen? Es ist so eine Sache. Die hohen vorgesetzten Behörden haben ihre eigenen Ansichten – sie haben ihre eigenen Männer bei alledem, wenn ich über einen Mann berichte, den ich so lange kenne, werden sie sich wohl halten an meinen Bericht. … Aber warum wollen Sie das?“

Hans Ritter zog den Brief des Geheimen Sanitätsrats hervor. „Wenn ich Sie an ein Gespräch erinnern darf,“ sagte er, „das wir vor einem Jahr über meine Aussichten hatten –“

„Nun, warum soll ich mich nicht erinnern?“ versetzte der Professor. „Und was ist anders geworden? Soll man gratulieren? Aber Sie sehen nicht aus wie ein glücklicher Bräutigam –“

Hans Ritter überreichte ihm den Brief mit kurzen Worten! und trat einen Schritt beiseite. Es war wohl noch eine Stunde bis zur Abenddämmerung, die Sonne leuchtete warm und klar über Thal und Strom, und über den jenseitigen Bergen lag ein wunderbar milder, weicher Silberduft, aber quer durch das lieblich stille Bild zogen sich jetzt langsam schwelende, mißfarbige Rauchstreifen von den Aeckern unterhalb des Rebenhanges hin, wo hochgehäuft das dürre, abgestorbene Kartoffellaub verbrannte.

Der Professor Isaak Bernstein hatte sich seit dem Tode Emiliens von Hans Ritter vieles über sie, ihren Gatten und ihr Kind berichten lassen, und eines, was ihm Ritter verschwieg, hatte er vielleicht zwischen den Zeilen manches seiner Gedichte gelesen. Während er den Brief halblaut las, wurde sein freundliches, faltenreiches Gesicht sehr ernst. Der alte Talmudist verstand sich auf den Inhalt dieses Briefes besser als Hans Ritter, und er nickte ein paarmal traurig bei den Schlußworten, welche klar besagten, daß es sich um eine lebensgefährliche Nierenentzündung handle. Dann faltete er den Brief sorgfältig zusammen, gab ihn zurück und ging einigemal nachdenklich auf und ab, bis er vor Haus Ritter stehen bleibend sagte. „Nun, Sie haben mir den Brief zu lesen gegeben, Sie haben ihn gelesen. Sie wollen aus Ihrer Docentenlaufbahn austreten und wollen machen, daß Sie ein sicheres Amt haben und ein gutes steigendes Gehalt, um für das kleine Mädchen sorgen zu können. … Soll ich Ihnen sagen, was die Welt dazu sagen wird? Oder soll ich Ihnen sagen, was ich davon denke?“

„Auf das Urteil der Welt bin ich in diesem Falle wirklich nicht gespannt,“ antwortete Hans Ritter mit einem trüben Lächeln, und der Professor Bernstein fuhr fort. „Dann kennen Sie auch das meinige, und ich brauch’s Ihnen nicht erst zu sagen. Denn warum? Die Menschheit braucht allerlei, sie braucht auch Professoren, sie braucht Philosophen, aber am nötigsten braucht sie gute Leute. Und also, wenn Sie 'mal was nötig haben, und der alte Professor Bernstein kann’s Ihnen geben, dann haben Sie’s auch. – – Nein, danken Sie nicht! Warum sollen Sie mir danken? Ich hab’ Ihnen ja noch nichts gegeben, nicht einmal eine Traube. Aber Sie werden keine Zeit haben, ich denke mir, Sie werden zu Ihrem Freunde reisen wollen – ich will Sie nicht aufhalten, und wenn Sie ein paar Tage ausbleiben ich will Sie gerne vertreten. Leben Sie wohl bis dahin – und der Allmächtige segne Sie!“

Hans Ritter hatte sich gegen Bardolf schon früher verschiedenemal der Notlüge schuldig gemacht. Während der nächsten Tage und noch bei mehreren Besuchen setzte er dieses Werk mit Eifer und, wie er hoffte, auch mit Erfolg fort. Es war erstaunlich, mit welcher Gewandtheit er, nachdem er dem Freunde das Geständnis seines Leidens entlockt, eine Reihe von schnellerfundenen Fällen gleicher Art aus seiner Bekanntschaft aufzuzählen wußte, die wieder ganz harmlos ausgeheilt seien. Wirklich schien es, als ob Bardolf sich dabei beruhigte.

Der Hauptmann, den Ritter bei seinem zweiten Besuche wieder in der Stadt fand und auch von dem Briefe des Arztes unterrichtete, bewährte sich wie immer als eine von Grund auf vornehme und ehrliche Seele. Bei aller Trauer freute er sich ordentlich, daß der überaus geringe Besuch seines Instituts in diesem Semester es ihm leicht machte, Bardolf sein Gehalt weiter zu zahlen, ohne ihn viel zu beschäftigen. „Wissen Sie,“ sagte er, „ich würde ihm am liebsten das bißchen Arbeit auch noch erlassen aber dazu kriegt man ihn ja nicht herum. Es ist jammerschade! Gerade jetzt hätte ich so eine glänzende Zukunft für ihn gehabt, denn es ist so gut wie sicher, daß ich zu Ostern die Chefredaktion einer großen militärischen Zeitschrift übernehme, wo ihm dann eine Stelle als Mitredakteur mit entsprechendem Gehalt sicher wäre. Den Krempel hier gebe ich auf!“

Für Laienblicke schien sich das Befinden Bardolfs kaum sehr zu verschlechtern. Als die Weihnacht herankam, bestand er darauf, persönlich Gretel und Luise zur Urgroßmutter zu bringen, wo die beiden dann einige Wochen bleiben sollten, während deren er im Hause des Hauptmanns sein Quartier hatte. Nach so viel Jahren brannte in dem kleinen Hause wieder der Weihnachtsbaum. Frau Klämmerlein konnte sich nicht satt sehen an Gretels Freude und an der ganzen Gretel, und Bardolf selbst schien von einer tiefen und großen Freude bewegt, daß er dies Fest mit seinem Kinde an der Heimstätte seiner Junggesellenjahre feiern durfte.

Am zweiten Feiertage abends reiste er zurück. „Auch der lieben Mama einen Kuß!“ sagte Gretel, als er sie zum Abschied küßte. „Ja, Kind, den will ich bestellen,“ erwiderte er. „Sei nur immer hübsch brav!“ Es lag etwas wunderbar Ruhiges und Hohes in seinen Zügen. Ritter begleitete ihn zur Bahn. Unterwegs fing Bardolf an. „Sag ’mal, lieber Freund, wir müssen doch einmal davon sprechen, du hast noch immer den Schein von mir, weißt du – –“

„Leider nicht,“ fiel ihm Ritter ins Wort. „Er ist mir, bald nachdem du ihn mir gegeben hattest, ins Feuer gefallen.“

Bardolf blieb stehen und guckte ihm ins Gesicht. „Das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_082.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)