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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

robuste Gestalten aus dem fernen Westen, welch letztere sich durch eine Vorliebe für breitrandige Schlapphüte und Buffalo-Bill-Locken verraten. Dem Süden entstammen chevalereske Pflanzer, deren Gesichtern man sehr wohl die spanische oder französische Abstammung anmerkt. Unter diesen Mitgliedern des Kongresses fehlt es nicht an Leuten, die durch ihre Erscheinung Interesse erregen, besonders unter den Senatoren sieht man prächtige von silberweißen Haaren und wallenden Bärten umrahmte Köpfe, die sich auch über einer römischen Toga stattlich ausgenommen haben müßten. Zu diesen Typen gesellen sich europäische und amerikanische Touristen, Künstler und Gelehrte, Geldleute sowie die Vertreter der auswärtigen Regierungen, die hier in weit größerer Zahl als an europäische Höfen vorhanden sind, da außer den Mächten der Alten Welt sämtliche Freistaaten Mittel- und Südamerikas sowie die Reiche Asiens eigene Botschafter und Gesandte in Washington besitzen.

Der Senatsflügel des Kapitols.

Einen ganz besonders hervortretenden Bestandteil der Bevölkerung von Washington bilden die Neger, die mit 80 000 Köpfen ein volles Drittel der Einwohnerschaft ausmachen und in hohem Grade dazu beitragen, der Stadt einen südliche Charakter zu verleihen. Unter dieser großen Masse des sogenannten „farbigen Volks“ ist nicht nur die ganze Musterkarte afrikanischer Negerphysiognomien zu finden, sondern auch die all jener Mischlingsarten, die aus Verbindungen zwischen Weißen und Negern hervorgehen und deren oberste Stufen nur noch durch eine matte Farbe sowie gewisse Merkmale an den Nägeln, Lippen und Augen kenntlich sind. Die Thätigkeit dieser Farbigen beschränkt sich nicht bloß auf untergeordnete Beschäftigungen, sondern man findet auch zahlreiche Advokaten, Aerzte und Apotheker unter ihnen. Im Regierungsdienst haben gegen 3000 Neger Verwendung gefunden, desgleichen sind viele farbige Pastoren und Lehrer in den für Neger reservierten Kirchen und Schulen thätig. Washington hat sogar seine schwarze Aristokratie, welche in hocheleganten Villen wohnt und durch zahlreiche Dienerschaft und prächtige Equipagen zu glänzen sucht. Diese schwarzen Aristokraten verdanken ihr Vermögen meist dem außerordentlichen Steigen des Wertes ihres Grundbesitzes. Der Anteil, den die Neger an dem Grundbesitz haben, belief sich im Jahre 1895 auf über 8 Millionen Dollars.

Will man die kosmopolitische Bevölkerung Washingtons auf kurzem Raume zusammengedrängt sehen, so braucht man nur die Anlagen vor dem Kapital mit dem herrlichen Peace-(Friedens-) Denkmal aufzusuchen und den dort beginnenden bis zum „Weißen Hause“ sich erstreckenden Teil der Pennsylvania Avenue entlang zu wandern. Man könnte denselben mit den Berliner „Linden“ vergleichen, nur entbehrt die Pennsylvania Avenue noch jenes weltstädtischen Glanzes, jener großartigen Kaufläden, eleganten Cafés und Restaurants sowie jenes Heeres männlicher und weiblicher „Flaneure“, die für die Berliner „Linden“ so charakteristisch sind. Dagegen stößt man hier auf einen weit größeren Reichtum der verschiedenartigsten menschlichen Typen. Neben Mitgliedern des Kongresses oder des gleichfalls im Kapital tagenden Obersten Bundesgerichts begegnen wir Dutzenden von welterfahrenen Journalisten, die von den hervorragendsten Zeitungen der Welt hierhergeschickt wurden, um auf telegraphischem und brieflichem Wege die wichtigen Vorgänge auf dem vielgestaltigen Gebiet der Politik zu berichten. Neben Armee- und Marineoffizieren stoßen wir auf Weltreisende, sogenannte „Globetrotter“, Erdballtreter, die es selbstverständlich nicht unterlassen, bald nach ihrer Ankunft auf der westlichen Erdhälfte auch einen Abstecher nach Washington zu machen, ohne welchen ihr Reiseprogramm ja unvollständig sein würde. Drüben ladet vor einem Austernkeller ein kohlschwarzer Neger einen Wagen Austern ab und beschmutzt dabei das Wäschebündel eines schlitzäugigen Chinesen, der eben im Begriff stand, eine seiner weißen Kundinnen mit frischer Osterwäsche zu versorgen. Dem ob des Unfalls entbrennenden Streit, der von seiten des Sohnes des Reiches der Mitte in einem wundersamen Kauderwelsch von Chinesisch und Englisch, von seiten des Negers in dem ebenso sonderbar klingenden „schwarz-amerikanischen Dialekt“ geführt wird, sucht ein in der städtischen Polizistenuniform steckender Irländer ein Ende zu machen. Dort auf dem „Sidewalk“, wie man hier den zu deutsch Trottoir benamsten Fußsteig zu nennen beliebt, sind italienische Arbeiter mit Ausbesserungen beschäftigt, halten aber schnell mit ihrem Werk inne, wenn ein Landsmann seinen hohen klävierähnlichen Marterkasten aufstellt und demselben die Weisen der Cavalleria rusticana entlockt. Voll aufgetakelt wie Fregatten, die eben zu frischer Fahrt auslaufen, kommen uns einige Schönheiten entgegen, um plötzlich erschreckt vor einem Trupp in vollem Kriegsschmuck prangender Indianerhäuptlinge zu fliehen, die von den fernen Prairien und Felsengebirgen nach der Bundeshauptstadt kamen, um den Großen Vater, den Präsidenten, zu sehen und einige ihren Stamm betreffende, wichtige Angelegenheiten mit demselben zu besprechen. Weiter begegnen wir jüdischen Kleiderhändlern, deutschen Gastwirten, kubanischen Cigarrenarbeitern, türkischen Zuckerwerkverkäufern, persischen Teppichhändlern usw.

Ein ebenso reichhaltiges Leben entwickelt sich auf den Fahrwegen. Omnibusse, Pferdebahnen, Droschken, Packwagen und Privatfuhrwerke aller Art hasten aneinander vorüber, zwischendurch suchen männliche und weibliche Radfahrer ihren Weg und bekunden beim Ausweichen eine Geschicklichkeit, daß man auf die Vermutung kommen könnte, jedermann in Washington sei ein professioneller Kunstfahrer. In Washington, das mit seinen insgesamt gegen 150 bis 200 km langen vorzüglichen Asphaltstraßen zum Radsport geradezu herausfordert, radelt jung und alt, sowohl der mit Paketen beladene Briefträger wie der Herr Senator.

Man würde sich eines unverzeihlichen Vergehens schuldig machen, wollte man verabsäumen, zu erwähnen, daß Washington auch eine Stadt der Kongresse ist. Abgesehen von den regelmäßigen Sitzungen des Bundeskongresses halten hier unzählige politische, wissenschaftliche und religiöse Verbände ihre Zusammenkünfte ab, wie z.B. der Weltpostverein, die Pan-Amerikanisten, die Mäßigkeitsvereine, die Freunde des allgemeinen Weltfriedens und zahllose andere.

Das alles trägt im Verein mit der absonderlichen Entstehungsgeschichte und dem ebenso eigenartigen, stetig wechselnden Volksleben dazu bei, Washington unter allen Städten der Neuen Welt eine Sonderstellung zu verleihen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_111.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)