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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Unglücksmensch in seiner Harmlosigkeit und seinem Eifer, sich zu entschuldigen, merkte nicht einmal, wie Mutters Gesicht länger und länger wurde. Ja, so tappig sind die Männer manchmal!

Und doch, einen Funken von Verständnis zeigte er zuletzt noch. Als Mutter ziemlich aufgeregt fragte. „Ja, aber wann war denn das alles? Ich habe mich um zehn Uhr schlafen gelegt – ich hoffe doch, Milly, Fritz kam zur rechten Zeit nach Hause? – da antwortete er nach einem schnellen Blick auf mich. „Ganz genau weiß ich die Zeit nicht. Ich denke mir aber, es wird so um Elf herum gewesen sein!“

Das habe ich ihm nicht vergessen.

Nach diesem ersten, unglücklichen Besuch ist er nämlich noch recht häufig unser Gast gewesen. Fritz befreundete sich mit ihm, Mutter gewöhnte sich an ihn – und ich verliebte mich mit der Zeit sogar ein wenig in ihn, obschon er vorläufig noch nichts war und gar nichts hatte als einen wundervollen Humor, ein flottes Talent, ein Paar treu blickender Augen und ein gutes Herz. Auch er – doch genug!

Ich bitte aber dringend, daß diese letzten Anspielungen ganz unter uns bleiben, denn ein Brautpaar sind wir schließlich doch nicht geworden. Ich glaube, er wohnt noch immer in einer Dachkammer.


Die Hansebrüder.

Roman von Ernst Muellenbach (Ernst Lenbach).

(7. Fortsetzung)

14.

Es entsprach den sonderbaren Ansichten Hans Ritters über Erziehung heranwachsender Jugend, daß er von seinem Pflegebefohlenen keine Minute Zeit mehr beanspruchte, als dieser ihm freiwillig widmete. Er sah es gern, daß der Jüngling mit einigen passenden Schulkameraden, die anscheinend eine besondere Gruppe in der „Klasse“ bildeten, fleißig verkehrte, auch an ihren Leibesübungen und gemeinsamen Ausflügen teilnahm, und besonders gern sah er es, daß Karl die Einladungen von Frau Professor Weber und ihrer Tochter nicht vernachlässigte, mit den erziehenden Damen respektvoll verkehrte und sich auch bei solchen kleinen Festen, an denen die jüngeren Insassinnen des Hauses unter üblicher Aufsicht teilnahmen, den Ruf eines wohlerzogenen jungen Mannes erwarb, „den man ruhig einladen kann.“

Zu solchem großartigen Verkehr war das weiße Mädchen noch ein paar Jährchen zu „klein“, aber auch sie war alsbald zu einem friedlichen und familiären Verhältnis mit dem „Vetter“ gelangt, sie freute sich über jeden kleinen Dienst, den sie ihm im täglichen Verkehr leisten konnte, und er widmete ihr eine gewisse brüderliche Ritterlichkeit, die von seiner früheren gelehrten Herablassung angenehm abstach. Grete war auch äußerlich ein sehr liebes Mädchen, groß und stark für ihr Alter, ihr rundes Gesichtchen unter dem vollen, aufgekämmten Goldhaar, das hinten in zwei mächtigen Zöpfen niederhing, war nicht eben „klassisch“ geschnitten, aber ungemein angenehm durch die reinen, blütenfrischen Farben und vor allem durch den Ausdruck der großen blauen Augen, aus denen eine Welt von Liebe strahlte. Wenn sie neben dem schönen, kräftig schlanken Jüngling einherschlenderte und seelenvergnügt zu seinem braunlockigen Haupte aufblickte, so sahen gute Menschen mit Wohlgefallen nach den beiden, und mancher, der betrübt war, kam ein Weilchen auf andere Gedanken.

Weder der Hauptmann von Seedorf noch der Doktor Hans Ritter gehörten zu jenen Männern, die es als eine Kränkung ihrer bürgerliche Ehre ansehen, wenn „ihr Junge“ in der Schule nicht auf dem ersten Platze sitzt. Uebrigens hatte sich Karl, dank der vortrefflichen Ausbildung des Pädagogiums und seiner Fassungsgabe, leicht und ohne Nachhilfe auch auf dem Gymnasium in der vordersten Reihe gehalten und brauchte das Examen nicht zu fürchten. Natürlich begann gleichwohl für ihn im Winter eine Zeit verstärkten „Ochsens“ und Repetierens. Eben aber in dieser Zeit machte der Doktor Hans Ritter eine Entdeckung, die ihm bewies, daß doch auch für ihn noch eine verschlossene Kammer in der Seele seines Zöglings war. Zunächst fiel ihm, kurz nach einer fröhlichen Neujahrsgesellschaft im Weberschen Hause, die merkwürdige vergnügte Zerstreutheit Karls auf, die zeitweilig in entschiedene Schwermut umzuschlagen schien. Nach ewiger Zeit fanden sich für diese ungewöhnlichen Stimmungen die ersten Ursacherscheinungen: ein Löschblatt, mit flammenden Herzen bemalt, ein leerer Briefumschlag, welcher, zwischen ähnlichen Zeichnungen, auf deutsch, lateinisch, griechisch, englisch, französisch und sogar hebräisch die verhängnisvollen Worte „ich liebe Dich!“ trug. Ueberraschend konnte die Entdeckung für ihn nicht sein; er hatte sich schon früher gelegentlich erinnert, daß bei ihm selbst und verschiedenen Schulfreunden der platonische Zustand ein bis zwei Jahr früher eingetreten war als Karl jetzt zählte. Einstweilen schwieg er noch. Aber wiederum nach mehreren Tagen sagte ihm Fräulein Weber lachend: „Wissen Sie übrigens, lieber Herr Doktor, daß Ihr Karl auch dichtet? Dieser Tage hat er meiner Cousine und mir hier eine Probe vorgelesen und das Autogramm sogar aus Versehen liegen gelassen, ganz wie ein richtiger Dichter. Da sehen Sie, da sind die Verse!“

Es waren wirkliche Verse, anscheinend ein Schwanengesang, denn der jugendliche Dichter versicherte darin wiederholt, daß sein Herz gebrochen, seine Hoffnung tot sei, er sprach den unbescheidenen Wunsch aus, das „Himmelsrund“ möge einstürzen, um ihn zu begraben, und knüpfte daran überraschenderweise die Zuversicht, alsdann werde wohl „eine“ kommen, um an seinem „einsamen Grab“ zu beten. „Wenigstens die Reime sind ziemlich sauber, seufzte der Doktor Hans Ritter, aber es war ihm doch unbehaglich zu Mute, denn dieses Symptom schien ihm bei diesem Menschen doch schon auf weitere Fortschritte des Uebels zu deuten. Man konnte schließlich nicht wissen – Karl mußte sehr einnehmend für weibliche Augen erscheinen, und auch unter Hans Ritters Zuhörerinnen gab es sehr anziehende Gesichtchen. – –

Er beschloß, den Sünder einmal nach Tisch auszuhorchen. „Sag’ ’mal, mein Junge, ich höre, du dichtest jetzt auch?“

Karl wurde dunkelrot. „Ach, weißt du, Onkel Hans, das war nur so … Es ist aus“, fügte er mit Grabesstimme hinzu.

„So,“ sagte der Onkel, „na, das freut mich. Wirklich aus?“

Karl zog ein beschriebenes Blatt aus der Logarithmentafel und überreichte es ihm. „Das ist mein Abgesang“, sagte er und verschwand, es war Zeit zum Nachmittagsschulgang, und selbst mit einem Vulkan im Busen darf man nicht zu spät kommen.

Auch der Doktor Hans Ritter machte sich auf den Weg, denn er hatte um drei Uhr Litteraturvortrag über Goethes „Tasso“. Unterwegs überzählte er nachdenklich seine Zuhörerinnen. „Ade! An E. Sc.“ lautete die Ueberschrift des „Abgesangs“. Aber er erinnerte sich nicht, jemals eine junge Dame gekannt zu haben, deren Familiennamen so ungewöhnlich war, mit Sc anzufangen.

Sehr zerstreut betrat er sein Vorlesungszimmer und verbeugte sich wie üblich nach dem Seitentischchen, an welchem die alte Frau Professor Weber als dame d’honneur zu sitzen pflegte. Die Inhaberin des Tischchens erhob sich und schüttelte nickend sechs hellblonde Hobelspanlöckchen. „Ach,“ sagte sie, „Sie werden entschuldigen, Frau Professor ist heute verhindert –“

„Ach, das ist mir aber wirklich sehr angenehm!“ rief der Doktor Hans Ritter. „Das heißt, ich wollte sagen … wer denkt auch an so etwas!“

Die Dame mit den sechs Hobelspanlöckchen und der nadelspitzen Nase war Miß Edith Scott, die englische Lehrerin des Pensionats, die sich kurz nach Neujahr in der Blüte ihrer achtunddreißig Winter mit dem Zeichenlehrer Rabe verlobt hatte.

„Wissen Sie, lieber Herr Doktor, das ist ja sehr beruhigend für Sie“, meinte Fräulein Martha Weber, als ihr Hans Ritter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_128.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2023)