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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Heimweh. Ja, schwere Jahre hatte sie hinter sich, die kleine Aenne May! Oftmals war es knapp, ganz knapp bei ihnen zugegangen da droben in der Mansarde, denn Tantens Kapitalien und ihre geringe Witwenpension wollten sich der Großstadt doch nicht ganz gewachsen zeigen, und Aenne war doch recht sehr an die Fleischtöpfe der guten Mutter gewöhnt, ihr junger, ungeduldiger Magen mußte ebenso entsagen lernen wie ihr Herz. Aber geschadet hatte es ihr nichts! Sie war noch gewachsen, sie trug ihre schöne Figur kraftvoll aufrecht, und wenn auch das Gesicht nicht mehr so kinderhaft gerundet erschien, so war es dafür desto edler und reizvoller geworden. Und der Medizinalrat hatte recht, als er zu seiner Frau sagte: „Ist bildhübsch geworden, die Aenne – schlägt meiner seligen Mutter nach, Alte!“

Die „Alte“ gab das gutmütig lächelnd zu. Von ihr hatte Aenne allerdings die Reize nicht, von der kleinen, kugelrunden, etwas stumpfnäsigen Frau Rat.

Und Aenne schritt dahin und nickte jedem Baume zu, den Linden, den Rotbuchen den Hängeweiden am Teich. Das zahme Reh kam wie sonst auf ihr Rufen heran. „Liese, bist du’s denn wirklich noch?“ fragte sie gerührt, als das Tier sie anblickte aus den braunen, zutraulichen Augen. Alles wie sonst, und so schön, so schön!

„Morgen bringe ich dir etwas mit“, sagte sie laut, „und deinem Hans auch. Lebt denn dein Hans noch? Und wo sind denn deine Kinder?“ Aber Liese sah sie nur stumm und groß an.

Ach ja, sie hätte immer fragen mögen, wie ist’s euch ergangen seither und – habt ihr den Heinz nicht gesehen, den Heinz Kerkow? Aber nach ihm wagte sie niemand auszuforschen. Mitunter hatte sie auf den Rand ihrer Briefe an die Eltern, einem mächtigen Drange nachgebend, gekritzelt, „Wie geht es denn eigentlich den Kerkows? Sind sie noch in Breitenfels?“ Aber sie hatte sich nicht entschließen können, diese Briefe abzusenden, hatte die Stelle entweder so gründlich ausgestrichen, daß keiner auch nur einen Buchstaben hätte entziffern können, oder hatte das Streifchen abgeschnitten. Geschrieben hatte ihr niemand über Heinz, über ihn nicht und über Günther nicht. Als sie vor drei Jahren, das einzige Mal während ihres Studiums, hier war in der Weihnachtszeit, hatte sie wohl von ihm sprechen hören, damals war er also noch dagewesen. Sie hatte auch erfahren, daß Hedwig Kerkow die Hausdame des Oberförsters geworden sei, gesehen hatte sie weder den einen noch den andern, und sich näher nach Heinz zu erkundigen, das litt ihr trotziges Herz nicht.

Es wurde ihr plötzlich heiß, sie nahm den Hut vom Kopfe und ging, ihn lässig in der Hand haltend, gesenkten Hauptes weiter. Auf den weiten Rasenflächen hatte man das erste Gras geschnitten, wunderbar harmonierte der Duft mit der ganzen Frühlingsstimmung. So war sie, ohne acht darauf zu haben, zum Luisenschlößchen emporgestiegen und wollte, wie sonst, daran vorüberschreiten, um in den Weg zu gelangen, der an der äußersten Grenze des Parkes hinlief. Da blieb sie verwundert stehen. Der alte, halbzerfallene Bau war renoviert, frisch gestrichen, schaute er gar schmuck aus den dunklen Tannen heraus, die ihn im Halbkreise umstanden. Das Erdgeschoß schien bewohnt, es leuchteten schneeweiße Gardinen hinter den kleinen Scheiben der hohen Fenster. Ein Frauenkopf erschien dort einen Augenblick, Aenne flüchtig musternd, sonst auch hier alles spukhaft still. Ueber den frisch abgeschütteten Kiesplatz lief eine schmale Räderspur und verlor sich nach dem Garten zu, der, durch ein ganz neues Gitter eingefriedet, erst neuerdings geschaffen sein mußte, als Haus- und Privatgärtchen der Schloßbewohner.

Aenne ging der Räderspur nach und lugte über das Staket. Unter der großen Buche, die eine neugezimmerte Laube in der rechten Ecke des Gartens beschirmte, stand das Wägelchen, dessen Spur sie gefolgt, eigentlich ein fahrbares Krankenbettchen, ein kleiner Sonnenschirm ohne Stiel hing darüber. Aus den weißen Kissen aber sah ein gelbliches Kindergesicht, um das sich goldblonde, weiche, seidige Härchen krausten. Zur Seite kniete eine Person, die dem kranken Geschöpfchen eine Tasse schäumiger Milch an die Lippen hielt. Die Finger des Kinderhändchens, welche die Tasse hielten, waren unheimlich abgezehrt und durchsichtig.

„Nun, wird’s bald, Heini?“ fragte die rotbackige Person barsch, „man bekommt ja blaue Flecke von dem ewigen Knieen.“

Das Kind hörte sofort auf zu trinken, schob die Hände der Wärterin mitsamt der Tasse zurück und drehte das Gesicht auf die andere Seite, ein armes, blasses, geduldiges Kindergesicht. Aenne sah, wie sich die Person erhob, und hörte, wie sie schalt. Dummer Junge, wenn du nicht so ein erbärmliches Häufchen Unglück wärst, kriegtest du ordentliche Fingerklapse, abscheulicher Bengel du!“

Aenne fühlte, wie ihr das Blut zu Kopfe stieg. Sie war im nächsten Augenblick im Garten und stand wie hingezaubert vor dem erschreckten Mädchen. „Wem gehört das Kind?“ stieß sie hervor, entschlossen, es den Eltern mitzuteilen, wie der kranke Liebling behandelt werde in ihrer Abwesenheit. Sie nahm bestimmt an, daß das Kind irgend einer Berliner oder Magdeburger Familie gehöre, die der schönen Luft wegen mit dem kleinen Patienten Breitenfels aufgesucht haben.

Die Person antwortete nicht, halb trotzig, halb verlegen schaute sie die schöne Dame an, die da so strafend vor ihr stand.

„Wie heißt du denn, mein Kleiner?“ fragte Aenne, sich zu dem Kinde niederbeugend. „Wohnst du denn hier?“ Und sie strich über die goldigen Härchen.

„Heini Kerkow,“ sagte das Kind, und als Aennes Hand zuckte, fragte es. „Hast du dir wehgethan!“ „Nein!“ antwortete sie mit versagender Stimme und kniete neben dem Wagen. „Nein, Heini!“

„Und warum weinst du denn?“ forschte das Kind weiter.

„Ich weine ja nicht, mein lieber Junge, ich freue mich, dich zu sehen. Soll ich dir jetzt deine Milch geben?“

„Ja!“ antwortete der Kleine.

Sie befahl, den Becher frisch zu füllen, stützte das matte Köpfchen und ließ ihn trinken. Ganz langsam, in kleinen Schlückchen nippte das Kind und Aenne kämpfte mit ihrer Erschütterung. – Das war Heinz Kerkows Kind!

„Danke!“ sagte der kleine Bursche endlich ganz artig und blickte sie aus den unnatürlich großen Augen an, wie verwundert ob dieser Freundlichkeit.

„Heinichen muß jetzt nach Hause,“ erklärte die Wärterin, rot vor Aerger, und trat hinter den Wagen, „sein Papa kommt uns alle Morgen bis zur steinernen Bank entgegen. Er ängstigt sich, wenn wir nicht pünktlich sind.“

„Adieu, mein lieber Junge!“ sagte Aenne weich, und noch vor dem Gefährt verließ sie den Garten. Ihr war auf einmal, als sei der Himmel nicht mehr so blau, die Sonne nicht mehr so golden angesichts dieses Leids. Ihre innige Heimatsfreude, ihre jubelnde Dankbarkeit war verschwunden, ihr rosiges Gesicht erblaßt. Ihre Augen sahen wie fragend in die grüne Wirrnis – warum läßt Gott es zu, daß in dieser herrlichen, frühlingsseligen Welt ein armes unschuldiges Geschöpf so leidet?“ sprach es aus ihnen.

Und dann stockte ihr Fuß. Sie war so hastig weiter geschritten, daß sie gar nicht gemerkt hatte, wie sie schon in um mittelbarer Nähe des „Theepavillons“ stand. Das kleine, aus Brettern im japanischen Stil geformte Häuschen, das ganz am Ende des Parkes lag, verdankte sein Entstehen und seinen Namen dem verstorbenen Herzog, der im Beginn seiner Krankheit hier in der Einsamkeit stundenlang zu weilen pflegte. Das Innere der Hütte barg damals in einem Wandschränkchen die Gerätschaften und Ingredienzien zur Herstellung einer Tasse Thee, die der Herzog sich selbst zubereitete. Als diese Marotte einer andern wich, veränderte das zierliche Tempelchen mit seinem seltsam geschweiften Dache, und außer einem Gartenarbeiter, der vielleicht seine Mittagsruhe darin hielt, besuchte es sonst höchstens noch Aenne gelegentlich ihres Umherstreifens.

Heute klangen Stimmen heraus. Ein mißmutiges. „Gut, wir werden ja sehen – Adieu!’ und aus der Thür flog wie ein Schmetterling eine zierliche, kleine Frauengestalt in lichtblauem Kleide und lief, den abwärts führenden Pfad hinunter, dem Teiche zu. Die Sonnenstrahlen huschten über das flachsblonde, zu einem Knoten am Hinterkopf aufgesteckte Haar, dies ausdruckslose Haar, das Aenne so genau kannte, das sie zuletzt unter dem bräutlichen Schleier schimmern sah, als Heinz Kerkow Hochzeit hielt.

„Toni Ribbeneck – Toni Kerkow!“ flüsterten ihre Lippen.

Und hinter dieser Frau trat, noch immer lachend und den Schnurrbart streichend, ein blonder Offizier heraus und schritt ihr langsam nach. Er trug den Ueberrock, hatte die Mütze schief

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_203.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)