Seite:Die Gartenlaube (1897) 215.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

hatte weder Form noch Namen, es war ,Es’, das Wunderbare, worauf ich mein halbes Leben gewartet habe, aber nie so überzeugt, so bebend wie an jenem Abend!

Da regte sich neben mir etwas Weißes, Zierliches an dem Geländer und von einem der benachbarten Tische rief eine wohllautende Frauenstimme herüber. ,Viola’.

Ich war sofort in tiefster Seele überzeugt, daß ein Mädchen, das Viola hieß, kein Kind sein könne wie andere Kinder, sondern etwas unendlich Feineres, Höheres und Schöneres, denn meine kleinen Freundinnen hießen alle entweder Rike, Christiane oder Luise, und der Name Viola schien mir der Feensprache anzugehören.

Plötzlich flammte in der Grotte ein Purpurschein auf, von dem das ganze Wasser glühte, der Springquell loderte darin wie eine Feuersäule und das weiße Kleid des kleinen Mädchens, das noch von dem Schein getroffen wurde, war auf einer Seite von Röte übergossen.

,Ah!’ rief ich außer mir vor Wonne und ,Ah!’ rief ein feines Stimmchen neben mir. Ohne zu wissen wie, hatten wir zwei kleinen Leutchen uns an den Händen gefaßt und standen in schweigendem Entzücken nebeneinander, als ob wir zusammen gehörten. Als der rote Schein erloschen war, fragte meine neue Freundin. ,Wie heißt du?’

Ich nannte ihr meinen Namen nun wollte sie auch wissen, wo ich wohnte, aber ehe ich mit der Antwort fertig werden konnte, setzte sie stolz hinzu ,Ich, ich wohne auf der Burg.’

Das kleine Fräulein sprach mit fremdem Accent, sie hatte kein H und ihr R rasselte wie eine Kinderklapper, was mich mit der tiefsten Bewunderung erfüllte.

Sie streckte mir ein farbiges Röllchen mit Franzen von Goldpapier entgegen und hieß mich das andere Ende fassen. Ich zog, das Röllchen zerplatzte mit einem Knall und ein Stückchen Chokolade blieb in meinen Händen. Ich war im siebenten Himmel, etwas Aehnliches hatte ich nie erlebt.

Unterdessen war an Stelle des roten Lichtes ein noch magischeres grünes aufgegangen, das den ganzen Garten in ein Geisterland verwandelte.

,Viola, mit wem sprichst du?’ rief die Stimme von vorhin wieder, ,bring den Knaben her!’ – und wider Willen, denn ich war ein blödes Kind, ließ ich mich von dem kleinen Fräulein nach dem erleuchteten Tisch hinüberziehen. Dort saß unter mehreren Personen, die ich nicht beachtete, eine schöne Frau mit weißem Gesicht und schwarzen Haaren, in denen eine Rose steckte.

Sie betrachtete mich genau, fragte gleichfalls nach meinem Namen und gab jedem von uns beiden eine mir unbekannte gold-gelbe Frucht, es waren die ersten Orangen, die ich gesehen habe. Dann hieß sie uns wieder gehen und weiterspielen.

,Komm, jetzt will ich Dir die Aktien zeigen,’ flüsterte ich meiner Gefährtin geheimnisvoll zu, ganz durchdrungen von dem Hochgefühl, auch meinerseits etwas bieten zu können und durch dieses Wunder allen bisherigen Wundern die Krone aufzusetzen.

In diesem Augenblick, der mir der höchste meines Lebens schien, wurde ich hinterrücks von einer groben Faust gepackt, daß mir die Goldfrucht aus der Hand fiel, eine rauhe Stimme rief. ,Da ist der Deserteur!’ und trotz meines wütenden Geschreis trugen mich zwei derbe Männerarme von hinnen.

,Wir haben ihn, Herr Stadtrat, wir haben ihn!’ hieß es, und ich wurde am andern Ende des Gartens zu den Füßen der Großeltern niedergesetzt, die mich seit einer halben Stunde voll Unruhe suchten. Ich hatte kaum den Boden unter mir, so wollte ich Hals über Kopf wieder davonstürzen, aber der alte Herr faßte mich mit eisernem Griff.

In meiner Angst, das Wunder zu versäumen, schlug ich um mich wie ein verwundetes Tier und brüllte in einem fort: ,Ich will dorthin, ich will dorthin!’ was nur zur Folge hatte, daß man mich noch fester hielt. Arme lallende Kindheit, deren Seligkeiten von den Erwachsenen nicht mehr begriffen werden! Wären mir die rechten Worte zu Gebote gestanden, so hätten die Großen vielleicht ein Einsehen gehabt und hätten mich selbst in mein Wunderland und zu dem Prinzeßchen zurückgeführt, das mich mit seiner Freundschaft beehrte. So aber sahen sie nur meine unbändige, unbegreifliche Unart, und um dem Lärm ein Ende zu machen, trugen sie mich mit Gewalt zum Garten hinaus. Mir war’s, als würde ich vom Glück auf ewig weggerissen, ich verhakte mich noch mit den Füßen in das Bein eines Stuhles, den ich eine Strecke weit mitschleifte, aber es half nichts! Einen Augenblick sah ich noch den ganzen Garten in einem violetten Licht erstrahlen, dann war ich draußen in der Dunkelheit und wurde an beiden Armen heftig fortgezogen, daß mir selbst das Zurücksehen unmöglich wurde – immer weiter in die finstere trostlose Nacht hinein, bis auch die Musik verstummte und der Aktiengarten mit seinen Wundern unwiederbringlich hinter mir versunken war.

Die Verzweiflung jenes Abends grub mir eine unverlöschliche Spur in mein Kindergemüt. Alles war hin, mein Heil auf ewig versäumt! Ich fühlte zum erstenmal mein Ich mit seinen Wünschen und Rechten in Feindschaft gegen die Umgebung und zwischen diesen zwei getrennten Welten war keine Verständigung möglich. Ich ließ im stummen Trotz die Schläge des Großvaters und die Vorwürfe der guten Großmama über mich ergehen und barg mein Geheimnis in der tiefsten Brust.

Aber im stillen lebte ich von der Hoffnung, auf eigne Hand in den Aktiengarten zurückzugelangen. Auf der Straße sah ich mich nach jedem kleinen Mädchen um, das mir begegnete. Zwar hörte ich einmal zufällig mit an, wie von einer ausländischen Familie die Rede war, die eine Zeit lang in der ,Burg’ – so hieß ein hochgelegener Gasthof vor der Stadt – gewohnt und ein bildschönes Kind mit Namen Viola bei sich gehabt hätte und die nun abgereist sei, man wisse nicht, wohin. Doch dies störte mich nicht in meiner Zuversicht, ich war überzeugt, wenn ich nur den Aktiengarten wiederfinden könnte, so müßte auch die kleine Viola dort sein, denn in meiner Vorstellung war eins vom andern unzertrennlich. Ich entrann auch wirklich einmal von Hause und fand sogar die Lauterbrücke zusamt dem Weg, den wir an jenem Abend gegangen waren, aber den Aktiengarten fand ich nicht, denn an dem einzigen Gartenthor, das mir aufstieß, marschierte ich gleichgültig vorüber, weil es keine Transparentschrift trug und auch sonst nicht aussah wie der Eingang des Paradieses. Ich verirrte mich schließlich unter großen Aengsten und wurde erst in tiefer Nacht den zu Tode erschrockenen Großeltern heimgebracht. Danach muß ihnen ihr Hüteramt bedenklich geworden sein, denn eines Tages packten sie mich auf und führten mich zu meinen Elterm zurück. Ich wurde zur Schule geschickt und damit war das Kinderparadies für immer hinter mir verschlossen. Aber der Aktiengarten und das kleine Mädchen mit dem schönen Namen und der seltsamen Sprache wichen nicht aus meiner Seele.

Viel später, als ich schon ein großer Junge war und seit langem das Gymnasium besuchte, hörte ich einmal mit an, wie meine älteren Geschwister darüber stritten, welcher Baum schöner sei, die Eiche oder die Birke. Und unversehens fuhr ich heraus.

,Die schönsten Bäume sind die Aktien.’

,Die Akazien, willst du sagen,’ berichtigte mein Vater, dem jede Ungenauigkeit ein Greuel war.

,Nein, die Aktien,’ wiederholte ich hartnäckig.

,Dummkopf,’ sagte der Vater und wandte sich ärgerlich ab.

Mein ältester Bruder aber, der schon ins Obergymnasium ging, sagte belehrend:

,Es giebt keine Bäume, die Aktien heißen, du hast wieder einmal läuten gehört und weißt nicht wo.’

Diese Rede kränkte mich empfindlich, besonders weil ich mir bewußt war und es auch oft von den anderen hören mußte, daß ich nicht immer mit den Worten einen deutlichen Sinn verband. Diesmal aber war ich meiner Sache sicher, denn der Großvater, dessen Autorität feststand, hatte mich ja selbst in den Aktiengarten geführt und ich hatte die Aktien, von denen eine ihm selber gehörte, mit eigenen Augen gesehen. Doch der Bruder schenkte mir keinen Glauben, sondern fragte höhnisch, wie denn die Aktien aussähen, worauf ich zu meiner Beschämung die Antwort schuldig bleiben mußte.

Aber unser Onkel Fritz, der damals ein lustiger Student war und zufällig dieses Gespräch mit angehört hatte, zog mich tröstend beiseite und sagte:

Laß dich nicht irre machen, du hast ganz recht, daß die Aktien die schönsten Bäume sind. und ich wollte nur, sie wüchsen drunten im Garten, damit wir wacker schütteln könnten.’

,Nicht wahr, Onkel, die Aktien tragen auch Früchte?’ fragte ich aufatmend.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_215.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)