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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Katastrophe, von der erst im Laufe des gestrigen Abends unbestimmte Gerüchte die Luft zu durchschwirren begannen und die wahrscheinlich erst beim heutigen Frühschoppen genauer den erregten Gemütern in Breitenfels bekannt werden würde. „Fräulein Hedwig, Sie sehen mich außer stande, etwas zu erwidern,“ stotterte er, „was ist denn geschehen?“

Ueber Hede Kerkows Gesicht flackerte die dunkle Röte verletzten Stolzes. Sie setzte ein paarmal zum Sprechen an, dann schwieg sie, und endlich brachte sie kaum hörbar die Worte hervor: „Tante Gruber schreibt mir soeben, daß meinen Bruder ein neues Unglück betroffen hat – seine Frau hat ihn verlassen.“

Er antwortete nicht. Nach einem Weilchen sagte er ruhig: „Die Pflicht gegen den Bruder und sein krankes Kind geht allem vor; bitte, verfügen Sie ganz frei über sich, Fräulein von Kerkow!“

Sie hob den Blick und sah ihn an. Es lag etwas Wunderliches in ihren Augen, aus denen das klare Schmerzenswasser sich Tropfen um Tropfen drängte, etwas Vorwurfsvolles, als thäte ihr die rasche Gewährung der Bitte weh. Er sah es nicht; er hatte den Kopf halb abgewendet und blickte durch die Scheiben auf die Straße.

„Ich danke Ihnen,“ stammelte sie.

„Machen Sie sich keine Sorgen um uns,“ sprach er weiter, „Karoline hat viel gelernt von Ihnen, Agnes ist fast erwachsen, und –“

„Sie werden ja leicht einen Ersatz finden,“ ergänzte sie.

Er antwortete wieder nicht.

„Ich will dem Mädchen die nötigen Anweisungen geben,“ fügte sie mit fester Stimme hinzu, „dann mache ich von Ihrer Erlaubnis Gebrauch und gehe hinauf zu meinem Bruder.“

Sie neigte ernsthaft den Kopf, und schon nach wenigen Minuten stieg sie den Schloßberg empor. Ohne sich bei Frau von Gruber des näheren zu erkundigen, ging sie stracks in die Wohnung ihres Bruders.

Es war Regenwetter hereingebrochen, und er befand sich infolgedessen mit Heini in seinem Erkerzimmer. Das Kind lag auf dem Ruhebett in Decken und Tücher gewickelt, war nervös und ungeduldig; es hatte erfahren, daß die Mutter nie wiederkomme und daß der Vater darum traurig sei. Das genügte, das Gleichgewicht des armen kleinen Kopfes völlig zu zerstören. Das kranke Kerlchen weinte bald plötzlich laut heraus, bald war es unartig, um gleich hinterher mit rührender Stimme um Verzeihung zu bitten, und das trübe Wetter fiel ihm vollends auf die zarten Nerven.

Hedes Anklopfen war überhört worden; Heini schluchzte gerade so laut. Heinz kniete vor dem Lager seines Kindes und redete ihm zu, als plötzlich Hede vor ihnen stand.

„Da bin ich, Heinz,“ sagte sie einfach, „und wenn du mich gebrauchen kannst, bleibe ich gleich hier.“ Sie hielt ihm die Hand hin, er legte die seine hinein, und Heini hörte auf zu weinen. Sprechen thaten die Geschwister kein Wort. Nach einer langen Pause, während welcher sie dem Kleinen immer wieder die herunterfallenden Bausteine aufhob und Heinz im Zimmer auf und ab schritt, fragte er stehen bleibend:

„Kannst du denn gleich so ohne weiteres fort, Hede?“

„Ja!“ sagte sie dumpf.

„Aber es wird dir gewiß schwer?“

„Du bist doch mein Bruder, mein Einziger auf der Welt!“ Sie sah ihn nicht an dabei, erhob sich nach einem Weilchen und ging in die Küche, um Anordnungen zu treffen, und von da zu der kranken Tante Gruber, die sie seit langer Zeit nicht besucht hatte.

Die alte Dame empfing sie seufzend und stöhnend. „Du bleibst jetzt natürlich bei ihm, Hede?“ endete ihr langer Klagenerguß.

„Ja, Tante!“

„Kannst du denn gleich? Du bist doch in einer Art Mietsverhältnis, und solche Leute nützen ihre Macht gern aus –“

„Solche Leute? Welche Leute?“

„Der Oberförster, der Parvenu! Wenn sie weiter nichts Gutes hat, diese fatale Durchbrenngeschichte, das wenigstens hat sie, daß du aus dieser untergeordneten Stellung kommst. Also – er erlaubt in Gnaden, daß du sofort zu Heinz gehst? Alles mögliche!“

In Hedes Augen erstarrte der feuchte Schimmer, aber sie erwiderte kein Wort. „Hast du noch irgend welche Wünsche, Tante?“ fragte sie kühl.

„Nein,“ jammerte die alte Frau aus den weißen Kissen heraus, „nur Heinz sollte vernünftig sein, sollte wenigstens so thun, als ob er rasend wäre über diesen Menschen, diesen Grellert, sollte so thun, als ob seine Forderung ihn nicht mehr erreicht hätte, oder von ihm ignoriert würde. Er blamiert sich ja mit seinem resignierten Stillhalten.“

„Weil er sich nicht geschossen hat mit dem ehrlosen Menschen – dieser Frau wegen?“ fragte das Mädchen mit zuckenden Lippen. „Na, gottlob, Tante, dazu ist er zu vernünftig – er denkt an seinen hilflosen Sohn.“

„Sie hätten ja in die Luft schießen können!“ rief die alte Dame.

Hedwig zuckte die Achseln. „Was kann Heinz dafür, wenn Grellert durchbrennt, ehe noch die Forderung gestellt werden konnte? Mein, Bruder hätte sicher das Seinige gethan, um dieser leider noch immer festgehaltenen Sitte zu genügen, die ich für ein Verbrechen, für ein Gottversuchen ansehe.“

Frau von Gruber warf ihr einen bösen Blick zu. „Das kommt davon, wenn man jahrelang mit Plebejern verkehrt,“ sagte sie, den Kopf zur Seite wendend.

Hedwig ging. Ihr war das Herz sehr schwer, und während sie Anordnungen für ihre Uebersiedlung traf, weinte sie eine stille Thräne um die andere. Sie fand nicht den Mut, noch einmal unten in die Augen der Kinder zu sehen, um Abschied von ihnen zu nehmen, die sie so eilig verließ und die sie so lieb gewonnen hatte. Daß ihr auf so ruhige, sachgemäße Weise das Scheiden erlaubt werden würde, hatte sie nicht gedacht; sie hatte gemeint, wenigstens ein Wort des Bedauerns zu hören. Hinterließ denn ihr Gehen keine Lücke? Galt denn ihr treues Walten als so wesenlos? Sie warf plötzlich den Kopf empor; ein harter, stolzer Zug erschien um ihren Mund – sie hatte wieder einmal die bitterste Erfahrung gemacht, hatte an ein wenig Dankbarkeit geglaubt und – – –

„Gieb mir mein altes Zimmer, in dem ich damals wohnte,“ bat sie Heinz, der eben eintrat. „Und das Kind nehme ich selbstverständlich mit herüber zu mir; dich stört es, du mußt Schlaf haben, Heinz,“

„Das Kind? Nein!“ sagte er ruhig, „Heini bleibt bei mir.“

Sie sah ihn groß an, schluchzte ein paarmal, aber sie schwieg.

„Hede, nimm’s nicht übel,“ bat er.

„Ich bin traurig, daß ich dir nichts nützen kann, Heinz!“

„Du kannst’s, und du sollst jedenfalls hier bleiben, Hede. Du hättest schon immer hier bleiben müssen, es war ja aber leider so – na, du weißt es.“

„Hier sein müssen? Als Müßiggängerin! Das sehe ich nicht ein,“ antwortete sie bitter. Sie kämpfte noch mit sich; Heinz, sah, sie wollte etwas sagen, aber dann wandte sie sich rasch ab und ging hinaus.

Am liebsten wäre sie sofort wieder in die Oberförsterei geflüchtet, allein das litt ihr Stolz nicht. Man würde sie ja gar nicht vermissen! – Die Karoline habe viel von ihr gelernt – die Aelteste sei fast erwachsen – so sagte er ja, der große gelassene Mann. Sie war am Ende schon seit langer Zeit ein überflüssiges Ding gewesen, man hatte sie nur aus Gewohnheit behalten?

Sie ging in die leere, schlecht gelüftete Stube, in der noch nichts daran gemahnte, daß sie wieder hier wohnen sollte, schloß die Thür hinter sich ab und grübelte über ihr armes, inhaltsleeres Dasein, das in seiner ganzen Nacktheit und Oede wieder vor ihr stand, nachdem es ihr ein paar Jahre lang ganz freundlich erschienen war. Alles erborgter Schimmer, den sie für echt genommen! Sie konnte sich nicht erinnern, daß ihr je bitterer zu Mute gewesen – –

Und während die Beteiligten still in dem alten Schloße ihrem Kummer nachhingen, war ganz Breitenfels in Aufregung über das Geschehnis. Die widersprechendsten Gerüchte tauchten auf. Die einen sagten, der Schloßhauptmann habe seine Frau schon seit Jahren schlecht behandelt; die andern, sie sei mit seiner Erlaubnis davongegangen; nur wenige entschuldigten ihn und klagten die Entflohene an, aber sie drangen nicht durch. Die Wohnstube der Frau Medizinalrat war vielleicht die einzige, in der nicht davon gesprochen wurde, obgleich dort auch mehrere Damen beim Nachmittagskaffee saßen. Aenne sah bleich aus und war sehr still, trotz ihres vorgestrigen neuen Triumphes, den sie im Rathaussaal zu Brendenburg errungen hatte. Dafür war Papa May aber noch ganz selig über seinen Liebling. Auch hatte Mama May ihr Herz höher schlagen gefühlt, als sie die schöne Tochter auf dem Podium stehen sah, von nicht enden wollendem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_242.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)