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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Nun war der Sommer vorübergezogen und der Herbst gekommen; ein öder, regennasser, früher Herbst. Verlassener denn je schaute Schloß Breitenfels auf das stille Städtchen herab; wäre nicht das einsame Licht hoch droben im Erkerzimmer so regelmäßig aufgesprüht jeden Abend, nichts hätte mehr daran erinnert, daß es bewohnt sei. Der Herzog hatte in diesem Jahre auch die Jagden abbestellt; er weilte in Cannes mit seinem brustkranken Sohn, und die Patrioten des Herzogtums Breitenfels saßen abends an ihrem Stammtische und redeten von der Zeit, wo sie preußisch werden würden. Sonst war alles beim alten, nur die bejahrte Hofdame war gestorben, an einem der letzten heißen Augusttage hatte sie der Tod ereilt. Nach der üblichen Frist war sie dann mit allem von ihr gewünschten Pomp begraben worden drunten auf dem Kirchhof. Aber nicht da, wo alle bunt durcheinander lagen, wie sie gerade starben, nein, Frau von Gruber hatte ihre letzten Sparpfennige dazu bestimmt, an der Mauer beerdigt zu werden, in welche eine wappengeschmückte Sandsteintafel über dem Hügel eingelassen wurde. Ganz „deplaciert“ wollte sie auch im Tode nicht sein, wenn ihr gleich einst die Familiengruft verkauft worden war mitsamt dem Stammschloß!

Bei dem Begräbnis hatten die Breitenfelser den Schloßhauptmann zum letztenmal gesehen; daß er überhaupt noch lebte, das merkte man nur noch daran, daß seine Lampe dort oben über ihnen brannte. – Auch der Oberförster sah Abend für Abend das Licht. Er saß länger denn je in seiner Stube und ging nicht mehr in der Dämmerung zu seinen Kindern, um sie singen zu hören; sie sangen auch nicht mehr, es war ja niemand da, der ihnen dazu spielte! Mitunter überkam den großen starken Mann eine wahnsinnige Angst und Unruhe, eine Ungeduld, ein Zorn, der ihn ungerecht machte gegen seine Umgebung; gegen sich selbst, so daß er die Mütze von der Wand riß und hinauslief, stundenlang wie sonst auch, nur daß er nicht mit Frieden im Herzen heimkehrte; der Wald hatte seine beruhigende Sprache für ihn verloren.

Mitten aus dem Rauschen, aus dem feierlichen Flüstern glaubte er dann plötzlich eine ruhige, klare Frauenstimme zu hören, wie er sie tausendmal gehört während der letzten Jahre. Und er stierte auf die Wege, als könnte er dort den Abdruck eines schmalen Frauenfußes entdecken, wie er ihn vor seiner Hausthür gefunden an jenem Abend, da sie zu ihm kam, um sein verwaistes Hauswesen zu übernehmen. Und wenn er heimkehrte, müde und abgespannt, dann öffnete er rein mechanisch die Thür der Wohnstube und schaute nach dem Fenstertritt, auf dem eine feine Gestalt sonst gesessen, die Jüngste neben sich – da aber stand der leere Stuhl. Und die Uhr an der Wand tickte auch nicht, und die Blumen am Fenster hingen die Köpfe. In den Ecken oder am Tisch lümmelten müßig die Kinder umher oder balgten sich im Garten, und die Hunde hatten es sich wieder bequem gemacht auf dem Sofa und fuhren scheu mit eingezogener Rute an ihm vorüber, obgleich er nicht daran dachte, sie zu strafen.

Er seufzte nur und nahm der Aeltesten das Buch fort, an dem sie sich einen roten Kopf geschmökert hatte, und hieß sie mit barschen Worten, sich um die Geschwister kümmern. Dann ging er in seine Stube, wo er sich vor seinen Arbeitstisch setzte, aber nichts arbeitete. Er hatte hier so gern geweilt, namentlich zu der Zeit, als er sein Hauswesen in Zucht und Ordnung wußte, und nie hatte er daran gedacht, daß es anders werden könnte, so ein thörichter alter Patron war er gewesen!

Nun war es anders geworden, und der Doktor May hatte zu ihm gesagt, er müsse wieder eine Dame haben; ob seine Frau ihm eine engagieren solle? Die Kinder verkämen ja reinweg!

Nein, nein, er wollte es nicht, er könnte keine andere da sitzen sehen auf dem Platz am Fenster! Es müßte so gehen, es müßte! Ostern würde die Agnes konfirmiert, dann komme ihr auch wohl der Verstand mit dem Amte. –

Merkwürdig, daß Hede Kerkow nie wieder heruntergekommen war! Die Kinder ließ sie sich zwar zuweilen hinaufholen, und dann kamen sie ordentlich gekämmt und ausgeflickt wieder. Er selbst hätte es nicht gemerkt, aber die Karoline sagte es, und die Karoline schickte dann auch höchst ungeniert die zerrissenen Höschen, Röckchen und Strümpfe der wilden Rangen durch Agnes zu Fräulein Kerkow, denn dazu habe sie keine Zeit, behauptete sie: und seit ein paar Tagen stieg das Jüngste jeden Morgen um zehn Uhr hinauf und wurde von Tante Kerkow in der Kunst des Lesens und Rechnens weiter unterrichtet, das heißt, es machte seine Schulaufgaben droben unter ihrer Aufsicht, wie bisher in der Kinderstube unten, nur besser.

Heute war des Oberförsters Geburtstag. Er selbst hatte nicht daran gedacht, aber der Strauß Astern und bunter Waldblätter, der auf dem Kaffeetisch stand, erinnerte ihn daran, und ebenso die feierlichen erwartungsvollen Gesichter der Kinder, deren jedes sein Verschen sagte; Tante Kerkow hatte sie dieselben gelehrt.

Es ward ihm sonderbar zu Mut, und der Dank wollte nicht recht aus der Kehle. Er mußte an die Geschichte mit Aenne denken. – – Einmal in seinem Leben war ein Sturmwind über ihn gebraust, hatte ihn in heißer Leidenschaft geschüttelt und gebeugt, und da – – nein, das würde er nie verwinden, das würde ein wunder Fleck bleiben zeitlebens! Und neben diesen Erinnerungen her lief ein anderes Gefühl, etwa als kühle ein linder Hauch diesen wunden Fleck, daß er ihn zuweilen doch vergessen konnte, und der Hauch ging aus von dem Walten, dem bescheidenen, fast unsichtbaren Walten eines gebildeten, verständnisvollen Wesens, das ein Zufall ihm ins Haus geführt, das wie der gute Geist selber in seinen vier Pfählen geherrscht hatte!

Es war ihm der Gedanke nie gekommen, sie zu fesseln für immer, kam ihm auch heute nicht, er hätte nicht den Mut gehabt, die Hand nach der Edeldame auszustrecken – er verehrte sie andächtig, aus der Ferne, als guten Engel seines Hauses. Und nun, seit sie ihn verlassen, wuchs ihm ein sonderbares, starkes Verlangen in die Seele hinein, daß er nichts denken konnte als das eine: ohne sie geht es gar nicht, ist es kein Leben! Und er sah sie beständig da drüben wieder sitzen am Fenster, die Kinder um sich – es war zum Verzweifeln, rein zum Verzweifeln!

Er lachte über sich und schüttelte den Kopf, daß die Kinder verwundert aufhorchten und sich Mit den Ellbogen stießen ob des Vaters sonderbaren Wesens. Und dann fuhr er aus seinem Brüten empor und strich dem stämmigen Buben über den Kopf. „Nun, was kann ich euch denn heute Gutes thun, damit ihr merkt, daß mich eure Gedichte erfreut haben?“

Sie sahen sich untereinander an und schwiegen.

„Wollt ihr Chokolade und Brezeln? Die Karoline soll sie euch nachmittags bringen.“

Sie schüttelten die Köpfe, und die beiden Jüngsten drängten sich an die Aelteste und der Junge wisperte ihr etwas zu.

„Tante Hede soll wiederkommen, wir haben solche Sehnsucht nach ihr!“ platzte der langaufgeschossene Backfisch endlich los und die Thränen schossen ihm in die blauen Augen. „Wir haben Sehnsucht!“ echoten die beiden anderen, und der Junge erklärte altklug: „’s ist ja gar kein Leben mehr, das hat Karline auch gesagt!“

Der Oberförster stand auf und trat von seinem Häuflein fort, er mochte sie nicht sehen in ihrem kindlichen Jammer. „Tante Hede muß den kleinen Heini jetzt pflegen, der hat keine Mutter mehr,“ sagte er gepreßt.

„Wir haben auch keine Mama,“ rief die Jüngste schmollend.

„Aber ihr seid nicht die Verwandten der ,Tante’; der Heini ist ihr Neffe und ist krank, das müßt ihr bedenken.“

„Wenn sie nicht wieder kommt, werde ich aber auch krank!“ trotzte der Junge.

„Vielleicht schenkt uns die Tante einen Nachmittag und trinkt Kaffee mit uns! Geht alle Drei hinauf und bittet sie darum,“ schlug er vor. Und die Eile, mit der sein Vorschlag ausgeführt wurde, ließ ihn trübe lächeln. Er verfolgte die Kinder, am Fenster stehend, mit seinen Blicken; sie sprangen den Schloßberg hinauf, wie losgelassene Füllen, und er stand da noch, als sie wiederkamen mit hängenden Köpfen. Und er, der Vierzigjährige, hatte Herzklopfen wie ein Gymnasiast.

Sie fingen alle Drei zugleich an zu reden: „Sie kommt nicht, Vater, Tante kann nicht – hier ist ein Brief, Vater!“

„Sie will nicht!“ dachte er niedergeschlagen – aber warum? Er nahm das Schreiben und ging hinüber in seine Stube. Ihre Visitenkarte fiel ihm entgegen, unter zierlich gestochenem Wappen der Name: Hedwig von Kerkow, und dazu geschrieben: „wünscht herzlich Glück zum heutigen Tage!“

Hätte sie doch lieber gar nicht gratuliert! dachte er und das Blut schoß ihm in die Stirn. Er legte das Blättchen auf die Spiegelkonsole und rückte näher zu seinen Büchern und Papieren, um sich in die Arbeit zu vertiefen. Die Aelteste trat

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_244.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)