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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Nehmen Sie’s bloß nich für ungut.“ – „Nee, Herr Svensen, wie konnt’ ich denn auch denken –! Es is mich aufrichtig leid, Herr Svensen, wirklich! –“

Er stand auf seinen Füßen, er setzte den Hut auf, zupfte hastig an der Weste, an dem sorglich geknüpften Tuch. Unwillkürlich rückte er seinen äußeren Menschen zurecht, weil der innere ihm von dem Sturz aus himmelhoher Hoffnung gänzlich zerrüttet war.

„Ja – ja denn so – nu ja! Ich – es war woll recht ausverschämt? – Guten Abend auch!“

Doris lief ihm nach, legte die Hand auf seine Schulter. Fast zärtlich war die Bewegung. Sein Schmerz ging ihr wirklich nahe.

„Lieber, lieber Herr Svensen! Tragen Sie mich das nich nach! – Sie werden gewiß Ihr Glück anderswo finden nu – wenn ich Sie dazu behilflich sein kann, denn Ihr Andenken werd’ ich zeitlebens in Ehren halten –“

Er wehrte mit Hand und Blick. „Laß man! – Laß mir man!“

Die Stimme war ihm heiser und unsicher. Er riß sich los, er trottete zur Schleuse zurück, zur Arbeit, die längst ohne ihn begonnen hatte. Seine Ordnungsstrafen beliefen sich schon so hoch, daß er einigemal das Mittagessen würde überschlagen müssen, um zahlen zu können. Ihm war’s egal. Er hatte ein Gefühl, als brauchte er überhaupt nie mehr zu essen. Gedankenabwesend schob er seine Karre. Um sechs stieg er nicht hinauf zur Baracke. Im tiefsten Grund der Schleuse verkroch er sich. Hinter einem mächtigen Granitblock hockte er sich nieder auf einen Haufen Gerümpel und grübelte.

Die Arbeiter entfernten sich einer nach dem andern. Ihre Schritte verhallten, es ward ganz still auf dem Schleusengrund. Nur in der Ferne schrapten und prusteten die Bagger. Die Sonne, die sich zum Untergang neigte, zog ihre Strahlen aus der Tiefe des Abgrunds zurück. Hoch über dem einsam Grübelnden am Rand der Böschung nur zitterte noch unaufhaltsam aufwärts steigend ihr Schein. Svensen stand auf. Die Brust ward ihm eng in der dämmerigen Klamm. Den Küstensohn packte die Sehnsucht nach dem wehenden Seewind, dem weiten Himmel. Schwerfällig stampfte er die Leitern hinauf und über das Sandplateau zum Strand.

Da lag sie vor ihm, die weite, tiefblaue Kieler Föhrde, ein kleines Meer für sich, umkränzt von Buchenwäldern, von Villen, von blühenden Ortschaften. Das freundliche Heikendorf drüben! Laboe, versteckt in seinen Gebüschen und Bäumen! Weiße Segel glitten über die glitzernden, ultramarinblauen Wellen, flinke Vergnügungsdampfer von Küste zu Küste. Frachtkähne krochen wie schwerfällige Käfer über die glitzernde Fläche hin bis zu dem Leuchtturme, der, einsam vor der Citadelle von Friedrichsort mitten in den Wassern stehend, die Wacht vor dem Hafen hält wie eine kolossale Säule dem Schiffsverkehr ein Doppelthor darbietend, durch das derselbe hinausflutet ins offene Meer, herein in den Schutz des Hafens.

Weiter nach Kiel zu leuchteten hier und da der weiße Rumpf, die gelben Schornsteine eines mächtigen Panzers auf. Und über all dies Wogen und Treiben, über die weißen Segel und die dunklen Segel, die Kronen der stämmigen Buchen, über die tanzenden Wellen und die hellen Landhäuser am Ufer goß die sinkende Sonne ihren rotgelben Glast und Schimmer, daß wie bei einer Festillumination Licht aus allen Gegenständen hervorzubrechen schien, eine Ausstrahlung gleichsam der inneren, unbändigen Lebensfreude und Lebenslust.

Nicht gut ist’s für den Leidvollen, an solchem Abend auf solch’ gesegnete Ufer zu blicken. Jeder Lichtstrahl, der das Bild farbiger, lachender gestaltete, bohrte sich als stechender Schmerz in Svensens gramumdüsterte Seele.

„Dumm ist die Sonne“, dachte er dumpf. „Da glänzt sie nun auf meine Uhrkette, ich glaube gar, in meine Augens – un was hab’ ich doch mit ihr zu schaffen? Wär’ ich tot un triebe da auf das Wasser, sie würde mir rot anmalen, gerade so wie das Stück Holz, das drüben swimmt.“

Dabei überkam ihn mit jähem Erschrecken, mit unheimlich gewaltiger Lockung die Vorstellung, daß es schön sein müßte, empfindungslos zu treiben wie das Stück Holz dort, die Wärme der Sonne nicht mehr zu fühlen und nicht den zusammenziehenden Schmerz in der Brust. Wie oft sollte er sie noch auf- und untergehen sehen – auf und unter, immer dasselbe Spiel. Ein langweiliges Spiel, wenn weder Auf- noch Untergang etwas anderes bringt als eine pompöse Schaustellung von Licht! Und immer dasselbe, Tag für Tag, bis er ein alter Mann war, der vor seinem Spittel fröstelnd ihren letzten Strahlen entgegenkroch, das gewöhnlichere eines alleinstehenden Arbeiters – erträglich nur, wenn für seine Kümmerlichkeit froh genossene Jugend im voraus entschädigt hat.

„Wenn ich jetzt gerad’aus ging’,“ dachte er, „immerzu gerad’ aus, über den blauen Tang weg, hin nach den schönen roten Sonnenstreif auf das Wasser, da wo nu der große Dampfer fährt – denn wär’ ich morgen gansen in Ruh’, braucht’ meine Karre nich länger zu schieben, nich von Aufseher Posanski mir anschreien zu lassen, braucht’ kein Strafgroschens mehr zu zahlen, weil ich zu spät komm’.“

Und mechanisch ging er weiter und weiter, bis das Wasser seine Füße netzte. „Weinen würd’ da niemand um,“ überlegte er. „Bloß daß es Gottes Wille vielleicht nich is, denn sonst hätt’ er letzten Montag wohl mir von das Gerüst abstürzen lassen un nich den Schlesier. Kann sein abers auch, er hat da nix gegen, un es is nu dem richtigen Augenblick, bloß ich verpaß ihn wieder mit mein dummes Besinnen.

Er fand aber doch, daß Besinnen in solchem Fall rätlicher sei, wandte sich dem Lande zu und klomm das hohe Ufer hinauf. Dort warf er sich in das üppige Buschwerk, das den Rand der Böschung überwucherte, und versuchte Ordnung in seine schwerfälligen Gedankenreihen zu bringen. Aber matt von Arbeit und Fasten, versank er in eine Art von Lethargie. Er sah die Sonnenreflexe auf dem Wasser langsam erbleichen, in Dämmerung und Duft die waldige Küste drüben verschwimmen. Er fühlte den Tau herabsinken auf sein unbedecktes Haupt und seine heiße Stirn kühlen. Müd’ lag er, reglos, mit einem stumpfen Wohlbehagen die Schönheit der Welt in sich eintrinkend, aus der er bald wegscheiden würde! Sie war für Menschen, die zur rechten Zeit kamen, wie die Sonne es that, und die Flut, Abend und Morgen, Sommer und Winter. Seinesgleichen verdarben nur ihr Gleichmaß! Kein Wunder, daß ein Mädchen, das schön und froh war wie ein Sommertag, ihn nicht mochte! Ja, er würde gehen! Inzwischen lag er, still schauend, eingebettet in das blühende Kraut, fast so wunschlos, gedankenlos befriedigt wie die Pflanzen um ihn her. Eingeschlafen war der brennende Schmerz in seinem Herzen. Der Friede der Natur hatte ihn eingelullt und die Nähe des Todes. Soll der dem Leben fluchen der von ihm Abschied nimmt? Abschied nehmende segnen! Aber es eilte ihm nicht, zu gehen. Er dachte an seine Jugend, an seine Mutter, er dachte an Doris.

Wer war ihm bei ihr zuvorgekommen? Der Italiener, der wie ihr Schatten ihr folgte? Der? Ja, sicher, der war’s! Der Gedanke verursachte ihm Pein. Er hielt Peretti nicht für einen guten Menschen. Aber was thun, wenn Doris ihn liebte? Liebe fällt wie der Tau, wahllos auf die Rose und auf die Nessel.

Die Zeit verstrich. Der Vollmond, der auf der Sonne Scheiden wartend, am Himmelsrand gehangen hatte, begann sich mit Silberlicht zu sättigen. Eine breite Silberbrücke zog er über die unruhig hüpfenden Wellen eine Straße des Lichts, auf der ein Müder eingehen konnte zur Ruh’. Die Boote hatten den Hafen gesucht, die Schiffe warfen die Anker aus, die Möwen schliefen. Ruhe auf dem Meer, Ruhe auf den Land. Friedlich schimmerten die Lichter von Holtenau herüber, die Lichter aus den Arbeiterbaracken. Wie eine Burgruine ragte der noch unfertige Kanalleuchtturm am Strande auf, die dem Mond zugekehrte Seite gebadet in flimmerndem Glast. Unheimlich schwarze Schatten gähnten wie Abgründe auf zwischen feinen Stützpfeilern, im Innern seiner Mauern. Und nirgends ein Mensch! Und nirgends ein lebendiges Wesen! – Doch! – Das Herz des Einsamen that einen jähen Schlag. Mit einem Ruck riß es ihn empor aus der Kräuterwildnis. Er kannte den wiegenden Gang, er kannte das Haar, flimmernd an Mondlicht unter dem weißen Häubchen. Ja, sie war den Weg von Friedrichsort herabgekommen, sie, sein Glück und seine Qual! Auf den Leuchtturm schritt sie zu – aber nicht allein. Jemand war bei ihr. Der Italiener? – Nein! – Die unverdorbenen Augen des Enkels einer langen Reihe von Schiffern sahen scharf wie die eines Seeadlers, unbeirrt durch Mondflimmer und Entfernung. Sie erkannten den Mann an des Mädchens Seite, den Landsmann und Kameraden Lorensen. Und in seinem Schmerz dünkte es den Verschmähten schon fast Glück, daß es der Italiener nicht war.

Wie fest sie sich aneinander schmiegten, wie heiß sie sich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_290.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)