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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

und er sagte ihr ein ungeduldiges, bitteres Wort wegen irgend einer Kleinigkeit.

Hedwig war gerade wieder in die Stadt gegangen, um Einkäufe zu machen, als ein Packträger einen Brief an sie brachte. Eine Männerhand hatte die Adresse geschrieben, das war unverkennbar: Der Brief lag nun mehr als eine Stunde lang auf dem Tische, vor Forstners Augen. Er mußte immer wieder die Aufschrift lesen: „Frau Regierungsrat Hedwig Forstner.“

Allmählich wuchs eine neue quälende Empfindung in ihm empor: das Gefühl der Lächerlichkeit vor anderen. Er dachte im allgemeinen so wenig an die Menschen, mit denen er ja nicht mehr in Berührung kam. Aber wie er es nun so schwarz auf weiß vor sich sah, daß er dieser Frau seinen Namen gegeben hatte und daß sie vor aller Welt zu ihm gehörte, da schämte er sich seiner Gutmütigkeit. Er hatte ja doch nur ihr das Opfer dieser Trauung gebracht. Ihm wäre mit einer Pflegerin, die sich nach seinem Tode nach einer anderen Stellung umsehen konnte, ebensogut gedient gewesen. Das sollte sie doch anerkennen und ihn nicht dem Gespött preisgeben! Als sie heimkam, schob er ihr das Schreiben hin und sein lange verhaltener Zorn bebte durch die Worte, die er ihr mit heiserer Stimme zurief:

„Warte doch, bis ich tot bin! Dann kannst du ja thun, was du willst!“

Sie hob erschrocken die Augen und ließ in ihrer Bestürzung das Paketchen mit Zwieback, das sie für ihn gekauft, zu Boden gleiten. Dann bückte sie sich mit einem leisen Schreckensruf und stand mit dem zerbrochenen Backwerk in der Hand so verstört, mit einem solchen Ausdruck des Staunens und der Unschuld vor ihm, daß er sich in seiner Verbitterung sagte, sie sei eine vollendete Schauspielerin.

„Was habe ich gethan? Um Gottes willen! Rede doch nicht so!“

„Der Brief ist doch jedenfalls von dem jungen Menschen, von dem Musiker, mit dem du so häufig spazieren gehst. Wohl die Absage eines Stelldicheins oder eine neue Bestellung?“

Sie blieb ganz wortlos, in starrer Verblüffung. „Ein Stelldichein? Ich?“ stieß sie endlich hervor und sah ihn bekümmert an, als redete er im Fieber.

„Bitte, leugne nicht! Man hat dich zu wiederholten Malen mit dem jungen Herrn gesehen! Wie oft du dich von ihm begleiten läßt, das weiß ich nicht. Ich bin ja nicht in der Lage, dir nachzuspüren. Darauf rechnest du wohl?“

„Das war aber doch kein Stelldichein!“ stammelte sie. „Herr Wilberg –“

„Also Wilberg heißt er?“

„Er kam doch öfter zu meinem Vater.“

„Das sagtest du schon einmal. Aber das ist doch kein Grund, warum du nun mit ihm herumrennen mußt! Warum kommt er nicht hierher?“

„Er wollte nicht, er meinte, es wäre besser, wenn wir es vorläufig noch geheim hielten –“

„Du bist wirklich naiv, Hedwig!“ stieß er höhnisch hervor. Sein heftiger Ton verschüchterte sie vollständig. Zitternd und blaß bis an die Lippen, rückte sie in die fernste Ecke des Zimmers, weit von ihm weg, und dachte nicht einmal daran, den Hut abzunehmen, als möchte sie am liebsten vor seinen finsteren Augen zur Thüre hinaus fliehen.

„Hast du dir nicht klar gemacht, daß du dem Namen, den ich dir gab, Rücksichten schuldig bist? Der junge Mensch kennt doch deine Stellung. Wie kann er es wagen, dir Heimlichkeiten zuzumuten?“

„Aber es handelte sich doch nur um die Oper meines Vaters, die er zur Aufführung bringen will. Er sprach mich an und bat mich, ihm die Komposition zu geben, die er schon kannte. Das that ich denn, weil ich mich so von Herzen freuen würde, wenn mein armer Vater, nach seinem Tode noch, anerkannt würde.“

Da Franz ruhiger geworden war und ihr mit weniger bösen Blicken zuhörte, faßte sie Mut.

„Dreimal habe ich nur mit ihm gesprochen, gewiß nicht öfter. Und das letzte Mal begleitete er mich bis an das Haus und sagte, er müßte einiges umändern. Aber er glaube, daß sich die Oper recht gut aufführen lasse, und er habe einen Freund, der Kapellmeister sei und der sich dafür interessiere.“

„Warum erzähltest du mir das nicht?“ frug er nur halb überzeugt.

„Ich wollte dich überraschen. Ich dachte, es würde dich auch freuen, wenn der Name meines Vaters auf dem Zettel stände.“

Die schlichten Worte machten den Eindruck der Wahrheit. Aber er hatte sich in sein Mißtrauen zu fest eingelebt, um so rasch an eine völlige Harmlosigkeit ihrer Beziehungen zu dem Musiker glauben zu können.

„Bitte, lies doch einmal deinen Brief,“ sagte er und drückte ihr denselben mit einem beobachtenden Blick in die Hand.

Sie zögerte nicht, den Umschlag zu öffnen. Er sah sie an, und kein Zug in ihrem Gesicht entging seinen prüfenden Augen. Langsam röteten sich ihre erst so fahl gewordenen Wangen. Eine tiefe Falte grub sich ihr in die Stirne. Mit einem Ausdruck heftigen Unwillens, leidenschaftlicher Entrüstung rief sie endlich aus:

„Nein! Das ist unverschämt! Das ist gemein!“

In seiner Erregtheit dachte Forstner sofort: er hat ihr wohl einen Liebesbrief geschrieben, und nun spielt sie die Entrüstete, da sie doch fühlt, daß sie den Inhalt nicht geheimhalten kann.

Aber Hedwig reichte ihm ohne weiteres Besinnen das Blatt, noch immer glühend vor Empörung, und er las – und schämte sich seines Mißtrauens. „Sehr geehrte gnädige Frau!“ lautete die Aufschrift. Also kein vertraulicher Ton, der sich nicht geziemt hätte! Der Musiker schrieb ihr in ziemlich umständlichen, verschnörkelten Redewendungen, er habe an der Oper des Vaters so viel ändern, neuschaffen müssen, daß sie es ihm wohl nicht verübeln werde, wenn er seinen Namen als den des Komponisten darunter setze. Sein Freund, der Kapellmeister, wünsche auch gerade von ihm ein Werk zur Aufführung zu bringen. Er sei übrigens gern bereit, den Kritikern, den Kollegen gegenüber zu erwähnen, daß er aus der Arbeit Rautenbachs viele Anregung geschöpft habe.

„Ein netter Herr!“ sagte Forstner ebenfalls entrüstet. Aber nach all den trübseligen und quälenden Gedanken, die ihm dieser Herr Wilberg in den letzten Wochen verursacht hatte, empfand er im Grunde doch eine gewisse Genugthuung darüber, daß derselbe sich in so schlechtem Lichte zeigte.

„Siehst du, Kind, das meinte er mit dem Geheimhalten, das er dir zumutete. Darum wagte er sich nicht hierher in mein Haus, in meine Nähe. Ich hätte dir abgeraten, ihm das Werk so ohne weiteres auszuliefern. Aber er merkte wohl bald, daß du die Menschen nicht kennst, nicht weißt, wie jeder nur seinen Vorteil will und es auf dem Weg zum Erfolg nicht genau nimmt!“

„So schlecht sind die Menschen!“ murmelte sie, und sie sah so verstört, so bestürzt und trostlos aus, daß er wieder an den kleinen Roman, den er sich ausgesonnen, denken mußte.

Sanft und teilnehmend schaute er ihr in das Gesicht.

„Sag’ mir’s offen, Hedwig, erschreckt dich sein Benehmen wirklich nur um des Vaters willen oder – oder hattest du den Menschen lieb, der den Toten um seinen Ruhm bestehlen, will?“

Sie sah ihn mit ihren großen Kinderaugen verwundert an. Dann schüttelte sie langsam den Kopf.

„Nein! Ich hab’ nie jemand lieb gehabt außer meinem armen Vater. Manchmal, wenn ich in den Büchern von Liebe gelesen habe, oder auch im Theater, wo sich das ganze Stück um nichts anderes dreht, da dachte ich mir: Wie kommt es, daß ich mich nie verliebt habe? Aber ich glaube, ich habe immer viel zu viel Sorgen gehabt und zu viel Angst, ob ich mit dem wenigen Geld, das der Papa mir gab, ausreichen würde. Ich hatte gar nicht Zeit, an anderes zu denken.“

„Armes Ding!“, sagte er mitleidig. Sie kam ihm vor wie ein Schattenpflänzchen, das aus Mangel an Sonne nicht zum Blühen kommen kann. Aber unwillkürlich beruhigte es ihn doch, daß sie nie jemand lieb gehabt hatte. Er konnte wieder daran glauben, daß dieses eine Menschenkind weinen würde bei seinem Tode; vielleicht weniger um ihn als um die Heimstätte, um die Pflichterfüllung, um den Lebenszweck, den sie bei ihm gefunden.

(Schluß folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_371.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2023)