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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

bewegten Ton seiner Stimme klang die kaum erst verwundene Aufregung wieder.

„Jetzt eben traf der rothaarige Hauptmann ein,“ versetzte Woldemar Eimbeck. „Ihr zwei seid die letzten. Aber was hast du? Gott’s Donner, du siehst ja aus wie der Tod! Rede doch! Du erschreckst mich! Ist uns irgend ein schleichender Schuft hinterrücks auf die Spur gekommen?“ Woldemar Eimbeck hatte die Schlußfrage kaum hörbar geflüstert.

„Gott sei Dank, nein!“ murmelte Doktor Ambrosius ebenso leise. „Aber Entsetzliches hab’ ich erlebt – die Neueste Großthat des Bluthundes … Ich bin rein wie zerschlagen …“

„Wir sollten das doch nachgerade gewöhnt sein! Wer ist denn das Opfer?“

„Die Ehewirtin des Zunftobermeisters Wedekind, bei dem ich wohne. Die frommste und tüchtigste Handwerkersfrau der Gemeinde.“

„Unglaublich! Auch die! Wo soll das enden? Aber nun laß uns hinauf! Was zögerst du noch?“

„Ich dachte nur so …“ raunte Doktor Ambrosius, „ob nicht doch vielleicht deine Haushälterin mit der Zeit stutzig wird? Ich weiß nicht, Woldemar, aber ich habe so das Gefühl …“

Der Ratsbaumeister schüttelte zuversichtlich den blonden Kopf.

„Das macht die Frau Wedekind! Solch ein Erlebnis fährt einem gleich in die Glieder. Aber der Mensch muß sich nicht werfen lassen. Meine gute Jakoba ist vollständig ohne Argwohn. Sie glaubt heute wie vor drei Wochen an das harmloseste Zechgelage. Sie hat mir auch diesmal ein Fäßlein Bacharacher besorgt und geht jetzt eben frohmütig zur Ruhe. Du weißt, sie ist abends müde zum Umfallen, da sie schon mit den Hühnern aufsteht und sich des Tags über keine Minute zum Sitzen gönnt. Uebrigens – wenn sie auch wach bliebe! – die Mauern und Wölbungen der Kornburg sind mächtig genug. Und obendrein ist sie schwerhörig …“

„Gerade wenn man so recht bestimmt auf die Schwerhörigkeit rechnet, schärft sie sich mitunter zur Leichthörigkeit. Denk’ nur an die Geschichte vom Winkelkrug! Besser man übertreibt die Vorsicht als umgekehrt!“

„Das thun wir ja. Und nun sei nicht verzagt, Gustav! Je toller sich dieser Bube gebärdet, um so besser für die gerechte Sache. Sein Maß wird in den Augen der Glaustädter um so eher voll.“

So stiegen die beiden Freunde Hand in Hand die schwarzen Basaltstufen hinan zum Obergeschoß.

In dem größeren der zwei Frontzimmer, die sich Woldemar Eimbeck als Kunstwerkstatt eingerichtet, saßen acht Männer sehr verschiedenen Alters und Aussehens um den breiten, viereckigen Tisch herum. Die Pläne und Zeichnungen, die sonst des Tages über hier lagen, hatte der Ratsbaumeister hinübergeschafft in die Stube der beiden Hilfsarbeiter. Der Bacharacher, in vier große Steinkrüge abgezapft, stand bereits auf der Tafel; jedermann bediente sich selbst. Der Anblick des Raumes wie der Versammlung bot nichts Auffallendes. Nur die Gesichter waren nicht ganz so fröhlich und strahlend, wie dies bei deutschen Zechgelagen sonst wohl die Regel ist. Uebrigens wirkte auch hier die seltsame Lichtmischung. Durch die zwei gotischen Fenster strömte noch eine gelbgraue Dämmerung herein, während auf dem eisernen Leuchterkranz mit dem phantastischen Leuchterweibchen schon die zwölf mächtigen Talgkerzen brannten.

„Glück und Heil!“ sagte Ambrosius und nahm sein Barett ab. „Entschuldigt, vieledle Herren, daß ich euch warten ließ! Aber es ging nicht anders. Das schmachvolle Begebnis, das mich zurückhielt, geht aus der nämlichen Tonart wie die gesamte himmelschreiende Unbill, die uns hierhergeführt.“

„Redet! Erzählt!“ klang es von allen Seiten.

Mit kurzen Worten teilte Ambrosius mit, was sich im Hause des Schreiners Wedekind zugetragen.

„Unerhört!“ rief Jansen, der Buchdrucker, ein Vierziger mit rotviolettem Gesicht, der aussah, als müßte ihn jede Minute der Schlag rühren. „Nun hat’s geschellt, Kameraden! Der Kerl haut jeder Vernunft – selbst von seinem Standpunkte aus geredet – ins Angesicht. Sein Korn reift schneller als ich’ gedacht hätte.“

„Das sage ich auch!“ bestätigte Eimbeck. „Je blödsinniger seine Unthaten, um so leichter für uns Anhänger zu gewinnen …“

„Aber der unglücklichen Frau hilft das nichts,“ meinte Ambrosius. „Balthasar Noß reitet verflucht schnell. Eh’ wir zum Streich ausholen, wird auch dieses schuldlose Opfer längst hingemordet sein …“

„Ja, Ihr habt recht!“ knurrte der Buchdrucker. „Und ich begreife auch, daß es Euch nahe geht. Wenn man so mit den Leuten das gleiche Haus bewohnt … Und eine tüchtige, wackere Person ist ja die Wedekindin allzeit gewesen …“

„Das Urbild einer ehrbaren deutschen Handwerkersfrau!“ rief Doktor Ambrosius warmherzig. „Wer ihr nur in die Augen sah, den überkam’s wie der Friede des Herrn, so gottselig schaute sie drein und so gütig und schlicht. Es bleibt mir unfaßlich! Bis jetzt hielt sich der Blutrichter doch vornehmlich an Minderwertige oder doch Gleichgültige. Nun aber greift seine Bosheit um sich wie die Pest, die gleich schonungslos dem Starken und den Schwachen dahinmäht. Ehvorgestern der reiche Schankwirt; heut die Brigitta Wedekind; morgen vielleicht …“

„Auch der Zunftobermeister Wedekind soll ja begütert sein,“ lächelte Woldemar Eimbeck.

„Natürlich!“ donnerte Jansen, der Buchdrucker. „Immer klarer tritt’s nun zu Tage, wo der ganze verruchte Unfug hinaus will.“

„Alte Geschichte!“ klang’s von den Lippen des Rechtsgelehrten Theodor Welcker, der zu der heutigen Sitzung des Freiheitsausschusses eigens von Dernburg, der Haupt- und Residenzstadt des benachbarten Fürstentums, herübergekommen war und sich jetzt wohlgefällig den langen, halb schon ergrauten Bart strich. „Uralte Geschichte! Unser erlauchter Fürst hat die Hexenverfolgung schon vor zwei Decennien als die Kunst bezeichnet, aus menschlichem Blut Gold zu machen. Bei weitem die Mehrheit dieser berufsmäßigen Malefikantenrichter besteht aus ehrlosen Spekulanten, die sich die Gutgläubigkeit ihrer Helfer und Helfershelfer pfiffig zu nutz’ machen. Die Vermögenseinziehung ist nicht umsonst mit in den Strafcodex aufgenommen. Und je mehr Balthasar Noß geschluckt hat, um so riesiger wächst sein Hunger. Man kennt das ja aus seiner früheren Thätigkeit!“

„Sehr wahr!“ versetzte Doktor Ambrosius. „Anderwärts hat er’s getrieben bis zur Erschöpfung. Ich glaube, vielteure Genossen, wenn ihr die Stadt retten wollt, eh’ sie verödet und ausgeraubt ist, wird es allmählich Zeit.“

Der rothaarige Hauptmann Fridolin Geißmar, der bei den letzten Worten eifrig genickt hatte, sprang jetzt in seiner ganzen Länge empor und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß Krüge und Becher klirrten. Er sah etwas abenteuerlich aus in seiner verschabten Kriegstracht, die an gewisse Typen aus dem Lager des Herzogs von Friedland erinnerte, bis auf die Aermel und den fehlenden Schulterkragen. Fridolin Geißmar hatte vor sechs Jahren im Niederländischen gegen Frankreich Dienste gethan und sich in etlichen Schlachten so ausgezeichnet, daß Glaustädt dem invalid gewordenen Helden ein Amt bei der Forstverwaltung und Fischerei übertrug, außerdem aber genehmigte, daß er nun auch im städtischen Dienst den Waffenrock weiter trage, der so überaus reich war an ehrenvollen Erinnerungen.

„Mir aus der Seele gesprochen!“ rief er mit seiner schnarrenden Stimme. „Das sind unerträgliche Zustände. Laßt uns ein Ende machen – um jeden Preis!“

„Gemach, Hauptmann,“ sagte Herr Theodor Welcker, der langbärtige Rechtsgelehrte aus Dernburg. „Nichts übereilen! Festina lente! Euch steckt noch der wilde Pfiff Eures niederländischen Feldzuges im Kehlkopf. Ihr vergeßt nur, daß wir kein Heer haben wie Ihr dazumal gegen die Welschen. Daher wir den Mangel an Söldlingen durch sorgsame Vorbereitung ersetzen müssen. Was hülfe es uns, wenn wir schon jetzt hinaus auf die Gasse stürzten unter dem Kampfgeschrei: ‚Nieder mit Balthasar Noß!‘ … ? Ihr sagtet schon neulich, daß Ihr Euch fest überzeugt hieltet, Hunderte von entrüsteten Männern aus allen Berufsklassen würden uns augenblicks zuströmen. Aber das glaubt nur ja nicht! Eh’ sich die schwerfällige Masse zu einer That entschließt, muß bereits eine erste That vorliegen. Nur dem Vollendeten gegenüber finden sie die Kraft des Entschlusses. Fahren wir also fort wie bisher, jeder in seinem Kreis Anhänger zu werben, die im gegebenen Falle entschlossen zur Hand sind und vor keiner Fährnis zurückschrecken. Sind wir

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_374.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2022)