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die Hand, beteuerte ihm die Aufrichtigkeit ihrer Freundschaft und eilte dann zurück in das Haus, zum erstenmal seit der Verhaftung der Mutter nicht völlig unter dem Bann ihrer Trostlosigkeit. Rudloff pflückte sich unweit der Geißblattlaube eine tiefbraune Levkoje. Er steckte die köstlich duftende Blume oben ins Schurzfell. Das sollte ihm jetzt während der Arbeit eine liebe Erinnerung sein an die freundlichen Worte des Mädchens und an den vielverheißenden wonnigen Händedruck. Sie war ja noch gar so knospenjung! Und dazu jetzt das quälende Leid! Er schalt sich fast, der gute, zartfühlende Mensch, daß er zu unrechter Stunde so deutlich gewesen. Man durfte hier nichts übereilen!

8.

Es war beinahe vier Uhr, als Doktor Ambrosius das schmiedeeiserne Thor am Leutholdschen Grundstück öffnete. Die Einladung hatte auf einen fröhlichen Trunk im Rebengange am Ufer der Grossach gelautet. Doktor Ambrosius schritt daher geradeswegs in den Garten.

Unter den saftgrünen Weinranken saß hier eine bunte Gesellschaft, die nächsten Freunde des Jubilars. Die Wirtschafterin Gertrud Hegreiner hatte aus vier aneinandergeschobenen kreuzfüßigen Gartentischen eine Festtafel hergestellt, die mit rotkantigen Leintüchern überdeckt und reichlich mit Blumen geziert war.

Obenan saß der Magister. Sein hochlehniger Stuhl prangte im Schmuck waldfrischen Eichenlaubs und purpurner Feldblüten. Rechts neben ihm lachte und schwatzte Frau Ada Melchers, die vierzigjährige Gattin des ersten Stadtpfarrers. Dann folgte der Pastor selbst, ein ruhiger, vornehm dreinschauender Herr, auf dessen mild freundlichen Zügen etwas wie heimliche Trauer lag.

Zur Linken des Jubilars thronte im vollen Staat seiner Amtstracht Herr Georg Kunhardt, der Bürgermeister – gleich dem Pastor ein Jugendfreund des Magisters, ein paar Jahre älter als beide, rundlich, behäbig und breitstrahlend vor Lebensfreude und sorglosem Daseinsgenuß. Der Bürgermeister Georg Kunhardt war nicht nur – wie dies der Maler und Reißer Noll auf dem Weg nach der Marienkirche betont hatte – einer der wenigen Kunstfreunde, deren sich Glaustädt rühmen durfte, sondern vor allem auch die bewährteste Weinzunge auf zehn Meilen im Umkreis. Hätte der wohlwollende, gutartige Mann halb so viel Kraft und Entschlossenheit im Bekämpfen widriger Zeitströmungen und schwerlastender Mißstände gezeigt als im Vertilgen des Rüdesheimers und Aßmannshäusers, er wäre das Musterbild eines vortrefflichen Stadtoberhauptes gewesen.

Georg Kunhardt war jetzt eifrig am Werk, seiner Tischnachbarin zur Linken die Vorzüge des Weingenusses vor dem überhandnehmenden Biergenuß zu erörtern, der den Leib träger und schwerfälliger mache. Diese Nachbarin war die sanfte, stille Mechthildis Lotefend, die Ehewirtin des reichen Tuchkramers. Denn auch die Lotefends hatte die kluge Hildegard nach einigem Zögern für heute nachmittag herbitten lassen da sich ihr Vater über das Wegbleiben dieser Nachbarn und Hausfreunde doch wohl gewundert hätte. Uebrigens war ja Herr Lotefend bis zur Stunde seinem Versprechen treu geblieben. Er hatte mit keiner Silbe versucht, da wieder anzuknüpfen, wo er im Lynndorfer Gehölz aufgehört.

An den Herrn Stadtpfarrer Melchers und die schweigsame Frau Mechthildis reihten sich dann hüben und drüben noch je fünf oder sechs Personen. Darunter der Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck, die beiden rotblonden Töchter des Bürgermeisters – Elsbeth und Dorothea – und die schwarzlockige Tochter des Pastors, Margret Melchers, ein zierliches, reizendes Mädchen, das von dem Vater die Feinheit der Züge, von der Frau Pastorin das frische, lebendige Temperament und den niemals versiegenden guten Humor geerbt hatte.

Ziemlich weit von dem Magister weg, inmitten der Jugend, saß der Gatte der Frau Mechthildis, Henrich Lotefend, der Sechsundvierzigjährige mit dem lodernden Herzen. Er trug wieder ein kostbares flandrisches Kleid, mit farbigen Bändern geschmückt, und machte den Eindruck, als ob er sich hier unter den frisch blühenden Mädchen völlig am Platz fühle.

Ihm gegenüber, neben dem Ratsbaumeister, hatte der Gegenstand seiner heimlichen Sehnsucht, Hildegard Leuthold, sich niedergelassen. Daß Henrich Lotefend ihr so unmittelbar in die Nähe kam, war das Ergebnis einer gut bemäntelten Absicht. Bei der Verteilung der Sitze, die aus dem Stegreif erfolgte, hatte der Tuchkramer sich bescheidentlich abseits gehalten, bis die Stühle da droben alle besetzt waren. Er wandte sich dann rasch zu der rotblonden Elsbeth Kunhardt und trug ihr mit einem artigen Scherzwort seine Nachbarschaft an. –

Die Gesellschaft befand sich in fröhlichster Laune. Man trank aus großen venezianischen Kelchgläsern einen blumigen Ahrwein. In mächtigen Zinnschüsseln dufteten goldbrauner Bologna-Reiskuchen und Glaustädter Salzbrot. Die Herren, mit der einzigen Ausnahme des Tuchkramers, rauchten aus langen Thonpfeifen sächsischen Tabak, den ein alter Hochschulkamerad zu Wittenberg dem „leider Gottes von hinnen gezogenen Mitforscher zum Geburtstag collegialiter dediziert“ hatte.

„Seht da!“ rief der Magister plötzlich. „Dort kommt unser Doktor Ambrosius!“

„Endlich!“ sagte der weinfrohe Bürgermeister. Es klang, als sei es ihm rätselhaft, daß ein ehrlicher deutscher Mann bei solcher Gelegenheit nicht mit dem Glockenschlag antrete.

Die Blicke Aller wandten sich nun der Stelle zu, wo Doktor Ambrosius eben zwischen zwei hochragenden Fliederbäumen hinter dem Steinbecken auftauchte. Nur Hildegard Leuthold sah wie unbeteiligt auf ihren Teller. Sie war von den Tischgenossen, die das Haus und den Garten im Rücken hatten, die einzige, die sich nicht umkehrte. Sie spielte ein wenig am Tafeltuch und führte dann mit einer sonderbaren Geziertheit, die man sonst nie an ihr wahrgenommen, ihr volles Glas an die Lippen.

Henrich Lotefend spürte in seiner linken Brust einen krampfartigen Schmerz. Das verwirrte Gebahren Hildegards, so unscheinbar die Symptome auch sein mochten, gab ihm volle Gewißheit über die Sachlage, die er einstweilen doch nur vermutet hatte. Wenn er bis jetzt Wort gehalten, ja die Gesellschaft Hildegards beinahe gemieden hatte, so war dies keineswegs gleichbedeutend mit einer Abtötung seiner Leidenschaft. Im Gegenteil, gerade die stumme Entfernung, die er sich aufzwang, steigerte diese Leidenschaft bis zum Wahnwitz. Seit dem Begebnis im Lynndorfer Gehölz war er nicht mehr wie einst, wenn er sie zwischen den Beeten gewahrte, hinab in den Garten geeilt, er hatte nicht mehr versucht, über die Weißdornhecke hinweg ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Wohl aber stand er häufig genug hinter den Weinranken seines Altans, dicht an der Hausmauer, wo er sie sehen konnte, ohne daß sie selbst ihn bemerkt hätte. Während die arglose Frau Mechthildis wähnte, er suche hier draußen Erholung von seinen alchimistischen Experimenten oder beschäftige sich in Gedanken mit neuen weitschichtigen Problemen, hatte er stundenlang auf Hildegard Leuthold hinuntergestiert und jede Linie ihres jungblühenden Leibes, jede Bewegung mit heißhungrigen Blicken nachgezeichnet, bis ihm das Herz hoch hinauf in die Kehle schlug. Mehr und mehr war er so zu der Erkenntnis gelangt, daß er ohne Hildegard Leuthold nicht mehr imstande sei, dies elende Dasein weiter zu schleppen. Dann fragte er sich, was ihm denn hier so unüberwindlich den Weg verlege. Die Antwort lautete mit immer größerer Bestimmtheit, offenbar sei ihm ein glücklicher Nebenbuhler in der Eroberung dieses jungfräulichen Herzens zuvorgekommen. Henrich Lotefend hatte die jungen Männer, die im Haus des Magisters verkehrten – es waren deren nicht allzuviel – rasch gemustert und dann etliche Tage zwischen dem blonden Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck und dem kecken, schwarzäugigen Doktor Ambrosius geschwankt, bis ihm auf Grund einiger unbedeutenden Züge, die er sich nach und nach aus der Erinnerung hervorholte, Doktor Ambrosius wahrscheinlicher vorkam als Woldemar Eimbeck. Immerhin trug er sich noch halbwegs mit der Hoffnung, dies alles könne doch schließlich auf Täuschung beruhen. Es kamen ihm Augenblicke, wo er sich mit der uralten Liebesregel zu trösten suchte: schroffe Ablehnungen bedeuten mitunter ihr Gegenteil. Er hielt sich dann Fälle aus seiner eignen Vergangenheit vor – freilich minder schwerwiegender Art – wo er über schnöde Zurückweisungen durch mannhafte Ausdauer glorreich gesiegt hatte. Jetzt mit einem Male hier an der Festtafel sank ihm der Mut vollständig. Die ganze Haltung des jungen Mädchens, ihr verlegenes Nippen, ihr sichtbarliches Bestreben, gleichgültig zu erscheinen, hatte ihm jeden Zweifel geraubt. Es war keine Täuschung – der Auserwählte hieß Doktor Ambrosius!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 414. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_414.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2022)